15-07-2015
Im Focus
Justizreform in China: Der „Zehn-Millionen-Anwalt“ wird Richter
von Mao Kaiyun

In den vergangenen Tagen hat der Ständige Ausschuss des Shanghaier Volkskongresses die Anwärter für hochrangige Richterämter und Positionen in der Staatsanwaltschaft für das Jahr 2015 bekannt gegeben. Einer davon ist Shang Jiangang, der zuvor leitender Partner in der Kanzlei Dacheng war. Nun kandidiert er für das Amt eines Richters im Mittleren Volksgericht Nr. 2 von Shanghai. Shang ist ein bekannter Anwalt, der sich auf den Bereich Urheberrecht spezialisiert hat. Für sein Anwaltsbüro erzielte er jährlich Einnahmen von über zehn Millionen Yuan, die Beijing News nannte ihn deshalb auch den „Zehn-Millionen-Anwalt".

Zurzeit geben viele Richter ihr Amt auf, um Anwalt zu werden. Shang Jiangang folgt diesem Trend nicht, sondern geht den umgekehrten Weg, was teilweise für Unverständnis gesorgt hat. Doch wie jede Sache hat auch seine zwei Seiten. Ich denke, dass seine Motivation, Anwalt zu werden, nicht finanzieller Natur ist, sondern er das System der gesetzesgemäßen Verwaltung verbessern will.

Zweifellos wechseln die meisten Richter in den Anwaltsberuf, um mehr zu verdienen. Aber das ist nicht immer der Fall. Manche wollen möglicherweise einfach nur der Routine und Langeweile entkommen. Oder sie verfolgen ganz andere Ziele. Shang Jiangang ist Richter geworden, um den Traum, den einst alle Studenten an der Jurafakultät hatten, zu verwirklichen.

Ob Richter kündigen, um Anwalt zu werden, oder Anwälte sich für eine Laufbahn als Richter entscheiden, beides ist positiv zu bewerten. Erstens ist es notwendig, dass juristisches Personal regelmäßig ausgetauscht wird. Im Volksmund heißt es, wer rastet, der rostet. Zweitens tragen der gegenseitige Austausch sowie die unterschiedlichen Denk- und Arbeitsweisen von Richtern und Anwälten zur Verbesserung des fachlichen Niveaus und zum Aufbau des Rechtsstaates in unserem Land bei. Drittens wird ein Richter, der Anwalt wird, sich aufgrund seiner bisherigen Berufserfahrungen schnell in die neue Tätigkeit einfinden. Andererseits können Richter, die bislang als Anwälte tätig waren, Anwälte besser verstehen und die gesellschaftliche Dimension hinter einem Fall erkennen.

China ist eine Gesellschaft mit Rechtsbindung und ein Rechtsstaat. Aber bei der Verwirklichung der gesetzesgemäßen Verwaltung des Staates tauchen viele negative Phänomene auf. Beispielsweise verstößt jemand absichtlich und wissentlich gegen das Gesetz, erzielt durch Rechtsbeugung persönliche Vorteile oder begeht Gewaltverbrechen. Diese Beispielreihe ließe sich schier endlos fortsetzen. Um die gesetzesgemäße Verwaltung in China zu verbessern, sind eine wissenschaftliche Gesetzgebung, eine strikte Umsetzung der Gesetze, eine gerechte Rechtsprechung und die Befolgung der Gesetze durch die gesamte Bevölkerung unerlässlich. Die Tatsache, dass der „Zehn-Millionen-Anwalt" Richter werden will, zeigt, dass sich die gesetzesgemäße Verwaltung des Staates positiv entwickelt. Man braucht sich keine Sorgen um die strikte Umsetzung der Gesetze und eine gerechte Rechtsprechung zu machen, ehemalige Anwälte sind in der Lage, den juristischen Handlungsspielraum einzuschätzen und nützliche Lösungen für eine gerechte Rechtsprechung finden.

Jeder mag zwar seine eigene Meinung darüber haben, dass ein Anwalt Richter wird. Individuum, Staat und Gesellschaft sollten langfristig aber dieser Entscheidung applaudieren.

 

 

Hintergrund: Vier Fragen zur Situation der chinesischen Richter

1. Wie wird man in China Richter?

Zuerst muss man eine staatliche Justizprüfung bestehen, um die erforderliche Qualifikation im Bereich der Justizarbeit (als Richter, Staatsanwalt und Anwalt) zu erlangen. Damit kann man sich zur staatlichen Aufnahmeprüfung für öffentliche Bedienstete an den Gerichten aller Ebenen anmelden. Denn das Modell zur Stellenausschreibung, Auswahl, Fortbildung und Anstellung von Justizpersonal gleicht dem für öffentlich Bedienstete.

Nach bestandener Prüfung folgt ein Bewerbungsgespräch. Erst danach kann man am Gericht arbeiten. Nach zweijähriger Berufserfahrung kann man sich zur Eignungsprüfung für das Amt des Richters anmelden.

2. Wieso wird es jetzt in China als Fortschritt angesehen, dass Rechtsanwälte Richter werden können?

Normalerweise rekrutieren sich die meisten Richter direkt aus den öffentlichen Gerichtsbediensteten. Wegen des Aufnahmeprozesses mangelt es den meisten jungen Richtern an Praxiserfahrungen bei der Bearbeitung der Fälle. Zum Beispiel werden viele Scheidungsfälle von unverheirateten Richtern entschieden. Wenn Anwälte mit langjähriger Berufserfahrung Richter werden können, verbessert sich in dieser Hinsicht eine Menge.

3. Wie sieht die neue Politik zur Auswahl der Richter aus?

Laut Kommuniqué der 4. Plenartagung des XVIII. Zentralkomitees der KP Chinas (23. Oktober, 2014) soll ein System zur Rekrutierung von Bediensteten für die Gesetzgebung, von Richtern und Staatsanwälten aus Rechtsanwälten und juristischen Experten eingerichtet werden. 

4.  Wie sieht die Gehaltssituation der chinesischen Richter aus?

Das Modell zur Stellenausschreibung, Auswahl, Fortbildung und Anstellung von Justizpersonal gleicht dem für öffentlich Bedienstete. In China werden 80 Prozent der Rechtsfälle auf der unteren Ebene entschieden und 80 Prozent des Justizpersonals ist auf dieser Ebene tätig. Hinzu kommt noch, dass in Justizbehörden der unteren Ebene nicht genügend Planstellen zur Verfügung stehen und so Richter, Staatsanwälte und Volkspolizisten niedrige Positionen innehaben, geringe Gehälter beziehen und es nur begrenzten Spielraum für den beruflichen Aufstieg gibt.