06-07-2015
Im Focus
Urbanisierung: Die Tragödie der zurückgelassenen Kinder
von Yuan Yuan

Private Initiativen helfen

Yu, ein ehemaliger Geschäftsmann, entschied sich zur Gründung der Parents Heart Foundation, nachdem er 2012 die traurige Geschichte von den fünf Kindern in Bijie gehört hatte.

Im November 2012 starben fünf zurückgelassene Kinder im Alter von 9 bis 13 Jahren an einer Kohlenmonoxidvergiftung. Sie waren in eine Mülltonne gekrochen und hatten darin ein Feuer angezündet, um sich in der Kälte zu wärmen.

"Ich war mit dem Auto unterwegs, als ich die Nachricht hörte", erzählt Yu. „Mir kamen die Tränen und ich konnte die Geschichte erst gar nicht glauben und mir kaum vorstellen, wie hilflos sich diese Kinder in der Mülltonne gefühlt haben müssen."

Anfang 2013 gründete Yu mit seinen Freunden die Parents Heart Foundation, seitdem war er 30 Mal in Bijie. 2013 rief die Stiftung die „Candlelight Action" ins Leben und stellte Lehrer in abgelegenen und armen Regionen an, um Kinder in Musik, Sport und Kunst zu unterrichten und mit ihnen am Wochenende Zeit zu verbringen.

Bis Ende 2014 entstanden in Guizhou vier Grundschulen mit 1116 Schülern. In diesem Jahr sollen weitere Schulen gegründet werden.

"Mama, wo bist du? Ich vermisse dich, komm bitte bald zurück!" Yang Dongchao, ein zehnjähriger Junge aus dem Dorf Dongsheng im Autonomen Gebiet Guangxi Zhuang hat seiner Mutter einen Brief geschrieben, weiß aber nicht, wohin er ihn schicken soll. Seine Mutter hat ihre Heimatstadt drei Monate nach seiner Geburt verlassen und ist seitdem nicht mehr zurückgekehrt (XINHUA)

"Wenn Mütter ihre Heimat und ihre Kinder verlassen, verstehen die Kinder nicht, wo ihre Mutter ist. Wenn möglich, sollten die Mütter ihre Kinder mitnehmen, dann wäre ihre neue Heimat ganz einfach da, wo auch ihre Mutter ist. Wenn dies aber nicht geschieht, wer wird dann zur Ersatzmutter?", fragt Yu. Die NGO hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Rolle zu übernehmen. „Das braucht Zeit, kostet Energie und erfordert vor allem Liebe", ergänzte er.

Du Shuang ist Leiterin von Growing Home, einer 2008 gegründeten NGO, die sich um die Erziehung von externen Schülern auf dem Land kümmert.

"Freiwillige Helfer brauchen lange, um sich in die zurückgelassenen Kinder hineinzuversetzen", erklärt Du, die seit 17 Jahren als psychologische Beraterin arbeitet. „Aber die meisten Freiwilligen bleiben nicht lange. Das macht die psychologische Hilfe für die verlassenen Kinder fast unmöglich."

2001 beschloss die Zentralregierung, die Bildungsressourcen zu optimieren und kleine Dorfschulen zu größeren Schulen in dichter bevölkerten Regionen zusammenzulegen. Die Zahl der Grundschulen in ländlichen Gebieten hat daher drastisch abgenommen. Mehr als 300.000 Grund- und Mittelschulen in ländlichen Gebieten wurden zusammengelegt und mehr als 30 Millionen Schüler als Externe in die neuen Schulen umverteilt.

Am 20. April dieses Jahres veröffentlichte das 21st Century Education Research Institute, eine Beijinger Organisation, die Bildungsprobleme aus einem unabhängiger Blickwinkel analysiert, das Education Blue Paper 2015, ein Dokument zur Bildungssituation. Sie kam zu dem Ergebnis, dass es weit mehr externe Schüler in benachteiligten Regionen als in städtischen Gebieten gibt.

In mehr als 60 Prozent der ländlichen Schulen gibt es 50 bis 300 Internatsschüler, der Anteil der zurückgelassenen Kinder liegt bei 56,3 Prozent.

Nach dem Essen machen diese Kinder im Schlafsaal einer Grundschule in Shicheng, Pingshun (Provinz Shanxi) einen Mittagsschlaf. Das Internat hat mehr als 140 Schüler (XINHUA)

Aufgrund des eintönigen Internatslebens, Armut und fehlender elterlicher Fürsorge zeigen zurückgelassene Kinder in ihrer Persönlichkeit, ihrem Charakter und ihren zwischenmenschlichen Beziehungen mehr psychologische Auffälligkeiten als Schüler aus der Stadt.

So sind Ausreißen, Schuleschwänzen, Diebstahl, Sachbeschädigung und Betrug bei diesen Kindern zwei bis drei Mal häufiger zu beobachten.

Die Zusammenlegung der Schulen könnte ein zusätzlicher Grund für die zunehmenden Probleme mit den zurückgelassenen Kindern sein, so Ye.

"Früher hatte fast jedes Dorf eine eigene Schule; jetzt müssen die Kinder entweder einen langen Schulweg in ihre neue Schule in Kauf nehmen oder Internatsschüler werden", erklärt Ye. „Das Bild von Schülergruppen, die jeden Tag morgens in die Schule hineinrannten, gehört der Vergangenheit an, in den Dörfern ist es ruhig geworden, die Isolation nimmt zu."

Bilder der Einsamkeit

Ein Kind aus Harbin (Provinz Heilongjiang) schreibt seiner Mutter eine Postkarte, weil sie es zum Kindertag am 1. Juni nicht besuchen kann (XINHUA)

2011 nahm Liu Jie, ein Fotograf der Nachrichtenagentur Xinhua, eine Fotoserie mit dem Titel „Leere Schulen" auf.  Für die Aufnahmen stellte jede Familie des Dorfs eine Reihe von Stühlen auf, für jedes Familienmitglied einen. Die meisten Stühle auf den „Familienbildern" blieben jedoch leer, weil die Älteren das Dorf verlassen hatten und nur die Jungen zurückgeblieben waren.

2014 brachte der bekannte Filmregisseur Zhang Yimo einen Dokumentarfilm über die zurückgelassenen Kinder heraus. „Stories of 180 Lenses" wurde aus Material zusammengeschnitten, das die Kinder selbst mit kleinen Kameras, die man ihnen zur Verfügung gestellt hatte, gedreht hatten. Auf die Frage „Bei wem lebst du?" antworteten fast alle „Bei den Großeltern".

Am 18. Juni veröffentlichte das Beijing Children's Mental Health Care Center ein Weißbuch zur psychologischen Verfassung der zurückgelassenen Kinder. Es basiert auf Untersuchungen von 2000 Familien, vor allem aus den ländlichen Regionen der Provinzen Guizhou, Shandong, Hebei, Gansu, Yunan und dem Autonomen Gebiet Guangxi Zhuang.

Dem Bericht zufolge wachsen von schätzungsweise 61 Millionen zurückgelassenen Kindern rund 10 Millionen bzw. 15,1 Prozent ohne ihre Eltern auf und können sie nicht einmal ein Mal im Jahr zum Frühlingsfest, der wichtigsten Zeit für Familientreffen in China, sehen.

Rund 4,3 Prozent haben ein Jahr lang keine Anrufe von ihren Eltern erhalten. Rund 9 Millionen Kinder haben nur ein oder zwei Mal im Jahr Kontakt zu ihren Eltern. Mehr als 15 Millionen Kinder rufen ihre Kinder  nur alle drei Monate an.

Das Weißbuch warnt davor, dass Kinder, die ihre Eltern nicht alle paar Monate sehen können, ein höheres Risiko für psychische Probleme aufweisen. Für Kinder im Nordwesten des Landes ist das Risiko höher als bei ihren Altersgenossen im Osten des Landes. Das Problem ist besonders in den ärmsten Regionen Chinas verbreitet. Die wohlhabenden Küstenregionen im Osten sind am wenigsten betroffen.

Dem Bericht zufolge tragen Mädchen ein höheres Risiko für psychische Probleme als Jungen, da sie "sensibler, zurückhaltender und introvertierter" sind und ihr Trauma weniger gut ausdrücken können.

Die Studie wurde von der gemeinnützigen Organisation, On the Way to School, und einer Gruppe von Psychologen unter Leitung von Professor Li Yifei von der Beijing Normal University durchgeführt.

Viele Kinder auf dem Land müssen lange Schulwege in Kauf nehmen

"Wir können den Kindern vielleicht nicht direkt helfen, aber durch den Einfluss der Medien, der Gemeinschaft und durch die Mobilisierung von Ressourcen können wir auf indirekte Weise zu Veränderungen beitragen", erklärte Li, der auch Verfasser des Berichts ist. „Diese Kinder brauchen seelische Nahrung mindestens genauso wie Sachspenden."

 

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