06-07-2015
Im Focus
Urbanisierung: Die Tragödie der zurückgelassenen Kinder
von Yuan Yuan

Die massenhafte Abwanderung vom Dorf in die Stadt hat zu katastrophalen Folgen geführt – 61 Millionen Kinder wachsen in China ohne ihre Eltern auf.

Die vier Kinder, die gemeinsam Selbstmord begangen haben, haben diese Schule in Bijie in der Provinz Guizhou besucht (XINHUA)

Vier Geschwister im Alter von fünf bis 13 Jahren sind am 9. Juni tot in einem Dorf in der Provinz Guizhou aufgefunden worden. Ersten Berichten zufolge haben sie sich im Haus der Eltern mit Pestiziden vergiftet.

Die Polizei fand einen Abschiedsbrief des ältesten Kindes vor, offensichtlich an die Eltern gerichtet. „Danke für eure Zuneigung. Ich weiß, ihr meint es gut mit uns, aber wir müssen jetzt gehen", hieß es darin. „Ich habe einmal geschworen, nicht älter als 15 Jahre zu werden und träume seit Jahren vom Tod."

Ein kleines Mädchen kocht im Dorf Yubei in Chongqing für seine Großmutter, bei der es aufwächst (XINHUA)

 

Ein tragischer Abschied

Der Junge und seine drei jüngeren Schwestern stammten aus dem Bezirk Qixingguan des Dorfs Bijie in Guizhou, einer der ärmsten Regionen in der Gebirgsprovinz. Seitdem die Mutter das Dorf Anfang 2014 verlassen hatte und der Vater ihr kurz darauf im März gefolgt war, lebten die vier alleine, ohne dass sich ein Erwachsener um sie kümmerte. Sie wohnten beengt in einem unordentlichen, staubigen Haus, ließen keinen Besucher herein und gingen vor ihrem tragischen Tod schon einen Monat lang nicht mehr zur Schule.

Viele Medien schilderten die Selbstmorde zunächst als Tragödie einer verarmten Familie, deren Kinder sich nicht einmal etwas zu Essen leisten konnten und die so zu ihrer verzweifelten Entscheidung getrieben wurden. Aber als Reporter im Dorf recherchierten, stießen sie auf eine ganz andere Geschichte. Das dreistöckige Haus war voller Lebensmittel, sie fanden 500 Kilo Maismehl und 25 Kilo Fleischkonserven vor. Ihr Vater Zhang Fangqi hatte ihnen eine Bankkarte mit 3500 Yuan (560 US-Dollar) gegeben und schickte ihnen außerdem regelmäßig Geld.

"Die Kinder hatten genügend Essen und Kleidung, aber ihnen fehlte die Liebe und Fürsorge ihrer Eltern", erklärte Xiao Wenying, ein entfernter Verwandter der Familie. "Die Eltern haben keine Verantwortung übernommen."

"Die Großeltern der Geschwister waren schon tot und die Kinder schwänzten oft die Schule, bis sie am Ende gar nicht mehr hingingen", berichtete Pan Ling, ein anderer Verwandter.

Berichten zufolge verließ die Mutter Ren Xifen die Familie, weil ihr Ehemann gewalttätig war, um dann in einer Spielzeugfabrik in der Provinz Guangdong zu arbeiten. Seitdem hatte sie die Kinder nur einmal angerufen. Der Vater war nicht einmal nach der Tragödie erreichbar.

"Verzweiflung und Einsamkeit haben zum Tod der Kinder geführt, und weniger die Armut", erklärte Sun Xumei, eine Journalistin der Beijing Times.

Die Nachricht vom Selbstmord verbreitete sich schnell im Internet und löste große Anteilnahme und Wut aus.

"Wie kann es sein, dass Eltern vier Kinder zu Hause zurücklassen und sie nicht einmal anrufen?", ereiferte sich eine 34-jährige zweifache Mutter aus Beijing. „Sie verdienen es nicht, Eltern zu sein."

Andere machten die Lokalregierung und die Schule verantwortlich, weil sie nichts unternahmen, obwohl die vier Kinder einen Monat lang nicht in der Schule erschienen.

"Die Schuld allein auf die Eltern, die Regierung und die Schule abzuwälzen, ist übereilt", meint Ye Jinzhong, Professor an der Chinesischen Hochschule für Landwirtschaft, der sich seit mehr als zehn Jahren mit den zurückgelassen Kindern auf dem Land befasst. „Sie sind nicht die Ursache für diese Tragödie."

Getrennt durch tausende Kilometer: Die Kinder leben in der Provinz Shaanxi, die Eltern arbeiten in Guangzhou (Provinz Guangdong)

"In den letzten 20 Jahren hat man die Landbewohner ermutigt, in die Großstädte zu ziehen. Lange Zeit wurde dies als eine Win-Win-Situation betrachtet, da die Landbewohner so Geld verdienten und  der Städtebau gefördert wurde. Aber seit einigen Jahren zeigen sich die daraus entstehenden Probleme", so Ye.

"Zhang, der Vater der Kinder, ist selbst ein von seinen Eltern verlassenes Kind. Er gehört zur ersten Generation dieser Kinder", berichtet Yu Qiwen, Gründer der Parents Heart Foundation, einer NGO, die sich um die alleingelassenen Kinder kümmert. „Wir sollten uns fragen, wie ein solches Kind, das selbst eine so traurige Trennung von seinen Eltern erlebte, seine eigenen Kinder demselben Elend aussetzen konnte. Wenn wir keine angemessenen Maßnahmen ergreifen, wird sich diese Tragödie wahrscheinlich in der nächsten Generation wiederholen."

Was er damit meint, erklärt er so: "Es gibt tausende von NGOs für diese Kinder, aber sie hatten bislang keine durchschlagenden Erfolge zu verzeichnen. Da die meisten Leute nicht wissen oder es sie nicht interessiert, was diese Kinder wirklich brauchen, können sie höchstens Vermutungen anstellen. Viele glauben, dass es hauptsächlich um Geld geht, also spenden sie etwas. Aber was die Kinder vor allem brauchen, ist Gesellschaft und dass man Zeit mit ihnen verbringt."

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