Weil die Behandlung in China für viele Krebspatienten unbezahlbar ist, kaufte Lu Yong günstige Medikamente in Indien ein und landete beinahe vor Gericht.
CFP
Wegen des Verkaufs „gefälschter Medikamente" an 1000 Personen stand Lu Yong im Juli 2014 unter Anklage. Diese Geschichte mag an sich nicht bemerkenswert sein, doch Lus persönliche Situation macht sie zu einer Besonderheit.
2002 wurde bei Lu eine chronisch-myeloische Leukämie diagnostiziert. Er begann mit der Einnahme von Gleevec, einem Krebsmedikament, das der Schweizer Pharmariese Novartis entwickelt hatte.
Seit 2002 darf Novartis dieses Medikament in China verkaufen. Lu benötigte jeden Monat eine Packung, die Kosten dafür beliefen sich damals auf rund 23.500 Yuan(1 Euro=6,7342 Yuan).
Da das Medikament nicht von der chinesischen Krankenversicherung bezahlt wird, gab Lu in den ersten beiden Jahren nach seiner Diagnose 600.000 Yuan bis 700.000 Yuan für seine Behandlung aus.
"Diese Kosten sind viel zu hoch für den Normalbürger", erklärte Lu. Selbst er, ein Textilexportunternehmer aus Wuxi (Provinz Jiangsu), konnte sich die Behandlung nicht leisten. 2004 war er fast bankrott und suchte nach bezahlbaren Alternativen.
Ein echter Glücksfall
Zufällig stieß er auf einen englischen Artikel und las dort von Veenat, einem deutlich günstigeren Generikum von Gleevec. Seine monatliche Medikamentenration kosteten ihn bei diesem Mittel nur 3000 Yuan.
Er ließ sich Probepackungen schicken und stellte fest, dass das Medikament bei ihm genauso gut wirkte wie das teurere. Er entschied sich daher, auf Veenat umzusteigen und berichtete auch anderen Leukämiepatienten in den Online-Selbsthilfegruppen, in denen er aktiv war, davon.
Mehr als 1000 Gruppenmitglieder wollten das Medikament daraufhin ebenfalls testen. Aber es war kompliziert, an das Medikament zu gelangen, für die Lieferung mussten Dokumente in Englisch ausgefüllt werden, was nur wenige ohne Hilfe schafften. Lu stellte sich daher umsonst als Übersetzer zur Verfügung. Er reiste sogar in die Medikamentenfabrik nach Indien, um sicherzustellen, dass alles mit rechten Dingen zuging.
Aufgrund der Gruppeneinkäufe aus China fiel der Preis für Veenat kontinuierlich. Die Kosten sanken, einschließlich Versandgebühren, auf 200 Yuan pro Packung. Damit kam Lu im September 2013 einen Monat lang aus.
Zur Vereinfachung der Transaktionen stellte das indische Unternehmen daraufhin Bankkonten bereit. Dennoch traten bei den internationalen Zahlungen häufig Schwierigkeiten aufgrund von Restriktionen und technischen Problemen auf.
Das indische Unternehmen bat Lu für die Abwicklung der Zahlungen in China um Hilfe. Lu sorgte sich, dass andere Patienten annahmen, dass er sie nur des Geldes wegen unterstützte. „Ich tat es nur, um anderen Leukämiepatienten in Not zu helfen", betonte er. Schließlich stimmte er zu und beantragte 2012 diverse Kreditkarten für die monatlichen Zahlungen der inzwischen mehr als 1000 Patienten.
2013 wurde die örtliche Polizei auf Lus Aktionen aufmerksam. Im August desselben Jahres wurde er von Büro für Öffentliche Sicherheit in Yuangjiang in der Provinz Hunan wegen Verstoßes gegen Kreditkartenvorschriften verhaftet. Im Juli 2014 wurde er wegen Kreditkartenbetrugs und des Verkaufs gefälschter Medikamente angeklagt.
Die Diskussion
Der Fall löste eine Diskussion über die moralischen Aspekte des Handels mit nicht zugelassenen Medikamenten aus dem Ausland aus.
Luo Jian, einer der am Fall beteiligten Staatsanwälte in Yuangjiang, erklärte, dass jedes Medikament ohne Regierungszulassung nach chinesischem Gesetz als Fälschung gilt, selbst, wenn es von einem registrierten Pharmaunternehmen produziert wurde.
Lus Verstoß gegen das Arzneigesetz gelte zwar laut Interpretation des Obersten Gerichtshofs, der obersten Gerichtsinstanz Chinas, als Straftat, in Wirklichkeit habe er aber nur gegen das Verwaltungsrecht verstoßen, was häufig eine mildere Strafe zur Folge habe, argumentiert Ruan Qilin, Professor an der Chinesischen Universität für Politikwissenschaften und Recht. „Die Gesetze sollten aktualisiert werden", forderte er.
Ausländische Medikamente seien aufgrund von Zollgebühren und Lieferkosten in China in der Tat teurer als im Herkunftsland, erklärte Zhuang Yiqiang, stellvertretender Generalsekretär des Chinesischen Krankenhausverbands. „Daher erlauben indische und chinesische Arzneimittelbehörden einheimischen Pharmaunternehmen im nationalen Notfall oder öffentlichen Interesse die Produktion der Medikamente ohne die Erlaubnis der Originalhersteller", erklärte Zhuang. „In der Praxis hat China dies allerdings, anders als indische Behörden, niemals gestattet. China sollte sich überlegen, ob die kostspielige Behandlung für Krankheiten wie Leukämie von der Basis-Krankenversicherung abgedeckt werden soll."
Das indische Patenrecht erlaube Unternehmen die Herstellung von Generika patentierter Medikamente, deren Freigabe in den Industriestaaten erfolgte, erläutert Shi Lichen, Seniorpartner in der Arznei- und Pharmaabteilung von All PKU, einem Beijinger Beratungsunternehmen.
Nach chinesischem Recht dürfen Medikamentenhersteller die Massenproduktion von Generika dann beantragen, wenn eine größere Bedrohung für die öffentliche Gesundheit besteht. Aufgrund der langen Wartezeiten für die Bewilligung hätten aber nur wenige Unternehmen daran Interesse gezeigt, so Shi.
So laufe das Patent für Tenofovir, auch unter dem Namen Viread bekannt, das zur Behandlung von HIV und Hepatitis B verwendet wird, 2017 aus, erläuterte der Leiter einer chinesischen Pharmaunternehmens. „Wenn wir jetzt die Genehmigung für ein Generikum beantragen, müssen wir drei Jahre warten, damit sind wir nicht viel schneller, als wenn wir das Ablaufdatum des Arzneimittelpatents abwarten."
Das Patent für Gleevec lief bereits 2013 aus, und mindestens zwei Pharmaunternehmen in China haben die Möglichkeit genutzt, entsprechende Generika herzustellen.
Die Generika der Chia Tai Tianqing Pharmaceutical Group in Jiangsu kosten monatlich 4200 Yuan, die Medikamente von Jiangsu Hansoh Pharmaceutical 3800 Yuan. Die indischen Varianten sind mit 200 Yuan pro Monat jedoch deutlich günstiger.
"Daher sind Bestellungen bei ausländischen Anbietern, sowohl von patentierten Medikamenten als auch von Generika, in China so beliebt", erklärte ein Analyst, der den Arzneimittelmarkt gut kennt.
Das Ergebnis
Ende November 2014 sollte die Gerichtsanhörung zu Lus Falls stattfinden, doch der Termin wurde verschoben, weil sich sein Gesundheitszustand verschlechtert hatte.
Kurz zuvor war die jüngste juristische Fallinterpretation des Obersten Gerichtshofs bekannt geworden. Darin hieß es, dass der Verkauf einer geringfügigen Anzahl nicht zugelassener ausländischer Medikamente, die keinen Schaden anrichten oder den Behandlungserfolg verzögern, keine Straftat darstellt.
Während des Prozesses unterzeichneten mehr als 300 Leukämiepatienten eine Online-Petition, in der sie die örtlichen Behörden aufforderten, Lu nicht zu bestrafen. Ein Patient namens Guo schrieb: „Lu hat unser Leben gerettet. Die Leukämie-Therapie wird von der normalen Krankenversicherung nicht bezahlt, also sind wir auf uns selbst angewiesen. Wir können nicht einfach dasitzen und darauf warten, dass wir sterben!"
Auch Wang Pen (Fußnote: *Pseudonym) aus der Provinz Sichuan profitierte von Lus Hilfe. An seinem 25. Geburtstag wurde bei ihm 2010 Leukämie diagnostiziert. "Es fühlte sich an, als sei mein Leben mit einem Schlag zu Ende gegangen", berichtet er. Später erfuhr er, dass in China mehr als 100.000 Menschen an der Krankheit leiden und jedes Jahr durchschnittlich mehr als 10.000 Fälle neu diagnostiziert werden.
Direkt nach seiner Diagnose trat Wang derselben Online-Selbsthilfegruppe bei wie Lu. Dort tauschten fast 480 Mitglieder Erfahrungen aus und standen sich mit Rat und Unterstützung zur Seite. So erfuhr Wang auch von Lus Medikamentenlieferungen aus Indien.
Das Patent für Gleevec lief 2013 aus, 2010 bot Novartis es zum Sonderpreis an. Beim Kauf von drei Packungen gab es neun kostenlos dazu. Dennoch waren die Kosten immer noch exorbitant hoch, vor allem wenn man berücksichtigt, dass die Patienten das Medikament ihr ganzes Leben lang nehmen müssen: Drei Packungen kosteten 72.000 Yuan.
In den ersten beiden Jahren seiner Erkrankung gab Wang rund 200.000 Yuan für Medikamente und medizinische Untersuchungen aus. „Es war eine große Belastung für meine Familie. Wir mussten auch unsere Verwandten um Hilfe bitten", erzählt er.
Im Juni 2012 wechselte er zu Veenat. „Meine Gesamtkosten pro Jahr lagen jetzt nur noch bei 3000 Yuan", berichtet Wang, der das Medikament im Rahmen von Testanalysten einnahm. Die Ergebnisse zeigten, dass Veenat zu 99 Prozent mit Gleevec übereinstimmte.
"Gleevec wird in China wahrscheinlich zum höchsten Preis der Welt verkauft. Es ist deutlich teurer als in den USA, wo eine Packung 2200 Dollar kostet", erläutert Lu. Er fordert Unterstützung für Krebspatienten, damit sie ihre Medikamente zahlen können, und fordert die Regierungen zu Verhandlungen mit den Pharmaunternehmen auf, damit die Preise sinken. „Ich hoffe auch, dass künftig mehr Medikamente von der Krankenversicherung bezahlt werden."
Am 29. Januar wurde Lu begnadigt, es wurde keine Strafe gegen ihn verhängt. Er wolle weiterhin Leukämie-Patienten helfen, um ihnen bezahlbare Behandlungen zu ermöglichen, erklärte er.
"Wenn ich noch einmal von vorne beginnen könnte, würde ich alles genauso machen. Unsere Politik kann sich nicht um jeden einzelnen Patienten kümmern. Was ich getan habe, war eine Ergänzung zu dem, was die Regierung tun kann", sagte er.
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