28-02-2015
Im Focus
Deliberative Demokratie in China
von Ji Jing

Was bedeutet deliberative Demokratie? Ist sie eine Erfindung des Westens oder eine chinesische Tradition? Was ist der Unterschied zwischen einer deliberativen und einer repräsentativen Demokratie? „Beijing Rundschau"-Reporterin Ji Jing befragte dazu drei Wissenschaftler. Es folgen Interviewausschnitte.

 

Beijing Review: Wie wurde das Konzept der deliberativen Demokratie angeregt und entwickelt?

Wang Xinsheng

(Leiter des Fachbereichs Philosophie an der Nankai-Universität): Das Konzept der deliberativen Demokratie wurde erstmals 1980 im Artikel „Deliberative Democracy: The Majority Principle in Republican Government" des amerikanischen Wissenschaftlers Joseph M. Bessette erwähnt. Bessette sprach sich darin gegen die Machtkonzentration in der Hand der herrschenden Klasse aus und befürwortete eine stärkere politische Partizipation der Öffentlichkeit, um eine neue Legitimation für die amerikanische Verfassung in der modernen Gesellschaft zu schaffen. Bei der deliberativen Demokratie handelt es sich jedoch um ein sehr kompliziertes Konzept, das sich seit seiner Entstehung in vielerlei Hinsicht weiterentwickelt und verändert hat.

Allgemein gesagt, bedeutet deliberative Demokratie in der akademischen Tradition des Westens, dass eine demokratische Regierung die Beteiligung der Bürger am politischen Prozess sicherstellt, um die Rechtmäßigkeit ihrer politischen Entscheidungen zu gewährleisten. Die Vorzüge der Staatsbürgerschaft finden ihren Ausdruck in diesem wechselseitigen Einvernehmen. Auf diese Weise wird eine wesentliche Grundlage für soziale und politische Fragen geschaffen. Beratungen bzw. Konsultationen sind entscheidend, sobald dieses Einvernehmen erzielt ist.

Daraus ergeben sich einige Fragen: Ist die deliberative Demokratie westlicher Akademiker identisch mit Chinas deliberativer Demokratie? Stammt die deliberative Demokratie, über die wir hier reden, einzig und allein aus dem Westen? Berücksichtigen wir die grundlegenden Konnotationen des Konzepts der deliberativen Demokratie, so gibt es einige Ähnlichkeiten zwischen China und dem Westen, da sich beide auf den Prozess beziehen, mit dem Bürger die öffentliche Politik durch politische Partizipation beeinflussen. Unter anderen Blickwinkeln wie dem sozialen Hintergrund, der Schaffung von Institutionen und der Umsetzung dieser Demokratie gibt es jedoch riesige Unterschiede zwischen China und dem Westen.

 

Ma Depu (Direktor des Instituts für Politik und öffentliche Verwaltung, Universität Tianjin):

Die deliberative Demokratie ist keine Erfindung des Westens. In China werden politische Themen von Parteimitgliedern auf Sitzungen diskutiert, meistens handelt es sich um Beratungen unter gewöhnlichen Parteimitgliedern, die nicht zum Führungskreis zählen.

Das Wesen der deliberativen Demokratie ist die Beteiligung der Bürger an der politischen Gestaltung, durch dieses besondere Merkmal unterscheidet sie sich von der repräsentativen und der konstitutionellen Demokratie des Westens. China hat die deliberative Demokratie bereits praktiziert, bevor das Konzept dazu im Land bekannt wurde. Seitdem übersetzte Texte zur deliberativen Demokratie aus dem Westen nach China kamen, haben wir damit begonnen, die bisherige demokratische Praxis mit dem Begriff der deliberativen Demokratie zu bezeichnen. 

 

 

Chen Yanqing

(Professor an der Nankai-Universität): Im Bericht von Hu Jintao, dem ehemaligen Generalsekretär des ZK der KPCh, auf dem  18. Parteitag  2012, wurde der Begriff der sozialistischen deliberativen Demokratie erwähnt. Dort hieß es, dass sie eine „wichtige Form der Volksdemokratie in China" sei. Dadurch wurde die Theorie der deliberativen Demokratie offiziell in China eingeführt und etabliert.

Tatsächlich wurde die deliberative Demokratie aber schon deutlich früher praktiziert. Die Idee der sozialistischen deliberativen Demokratie ist ein Erbe und eine Weiterentwicklung der politischen Beratungspraxis der KP Chinas in der Vergangenheit.

 

Gab es die deliberative Demokratie in Chinas politischer Entwicklungsgeschichte?

Wang Xinsheng: Vor der Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 gab es keine deliberative Demokratie in China. Es handelt sich um ein theoretisches Konzept, das für die Anwendung in einer modernen Gesellschaft gedacht ist, während Chinas traditionelle Gesellschaft aus einem über 2000 Jahre alten feudalen und autokratischen System bestand. Aber das bedeutet nicht, dass die Menschen in der Vergangenheit nicht über politische Entscheidungen diskutiert haben. Aufgrund historischer Belege wird dieses System von einigen Wissenschaftlern auch als konsultativ bezeichnet.

In China gibt es gewissermaßen eine lange Tradition der politischen Beratung, was hilfreich für die Herausbildung der deliberativen Demokratie war, da Diskussionen als eine gute Methode galten, um die Meinung der Bevölkerung miteinzubeziehen. Die politischen Diskussionen im traditionellen China basierten auf Werten wie „Wertschätzung von Harmonie" und "Einigkeit über die Uneinigkeit" und unterscheiden sich von westlichen Gesellschaften, die das Individuum hervorheben. Chinas kulturelle Tradition respektiert Frieden und Harmonie, darum ist man offen für eine politische Diskussionskultur. Diese Tradition, die heutzutage zu einem aktuellen Wert geworden ist, leitete sich aus unserem sozialen Leben ab.

Was ist der Unterschied zwischen deliberativer und repräsentativer Demokratie?

Ma Depu: Es gibt diesbezüglich zwei unterschiedliche Meinungen. Die einen glauben, dass die deliberative Demokratie eine Ergänzung der repräsentativen Demokratie ist; die anderen betrachten die deliberative Demokratie als eine der repräsentativen Demokratie überlegene Form der Demokratie. Ich tendiere mehr zur zweiten Ansicht, während die gängige Meinung im In- und Ausland der ersten Ansicht zuneigt.

Die repräsentative Demokratie führt dazu, dass sich die Menschen die meiste Zeit nicht um die Politik kümmern und nur bei Wahlterminen „aufwachen". Es ist eine formalistische Art der Demokratie, da die normale Bevölkerung  nur das Recht hat zu wählen, aber kein Recht, an öffentlichen Angelegenheiten zu partizipieren. Es gibt nur dann eine substanzielle Demokratie, wenn normale Menschen im Alltag aktiv an politischen Angelegenheiten und Maßnahmen beteiligt sind. Die deliberative Demokratie verschafft den Bürgern mehr Chancen dazu, das ist wichtiger als die alle paar Jahre stattfindenden Wahlen in einer repräsentativen Demokratie. Daher ist die deliberative Demokratie eine fortschrittlichere und weiterentwickelte Form der Demokratie.

 

Was ist das Hauptforschungsgebiet zur deliberativen Demokratie in China?

Wang Xinsheng: Die Forschung über die deliberative Demokratie ist kompliziert. Chinas akademische Kreise tendieren dazu, Parallelen und Unterschiede zwischen den demokratischen Systemen des Westens und Chinas vergleichend aufzuzeigen. Unsere Studien konzentrieren sich außerdem auf die Theorie und Praxis der deliberativen Demokratie. 

Dabei bin ich mit dem Vorgehen einiger Wissenschaftler nicht einverstanden, die die deliberative Demokratie von der politischen und demokratischen Konsultation trennen, denn letztere ist ein wichtiger Bestandteil der Forschung zur deliberativen Demokratie. Die meisten unserer bisherigen Studien zu politischen und demokratischen Beratungen beschränkten sich auf das System der Politischen Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes. Meiner Meinung nach erfordert die Untersuchung der Entwicklung der deliberativen Demokratie Chinas einen breiteren Blickwinkel, weil sie eine wesentliche Frage für Chinas politischen Weg ist.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass die aktuellen akademischen Studien über deliberative Demokratie in China den Wert und Einfluss westlicher Theorien übermäßig betonen. Chinas Wissenschaftler messen Theorie und Praxis der deliberativen Demokratie an den theoretischen Konzepten des Westens, was offensichtlich falsch ist. Theoretische Studien sollten sich immer aus den Anforderungen der Realität ableiten. Im Westen entstand die Theorie zur deliberativen Demokratie durch das Dilemma der repräsentativen Demokratie, während sie in China den Anforderungen an den Aufbau einer demokratischen Politik genügen soll. Die Theorien unterscheiden sich durch ihre unterschiedlichen Anforderungen.

Ich schlage zwei Richtungen für die weitere Forschung vor. Erstens, das Diskurssystem der deliberativen Demokratie in China klar zu umreißen und zweitens, Vorschläge für ihre Weiterentwicklung zu unterbreiten, die auf praxisnahen Studien zur aktuellen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und Umweltsituation Chinas beruhen.