29-11-2014
Im Focus
Ist Sexualkunde zu viel für Schulkinder?

In Grundschulen in Wuhan, in der Provinz Hubei in Zentralchina, ist im September ein neues Sexualkundebuch eingeführt worden. Das Buch beinhaltet detaillierte Informationen über den weiblichen Körper und die Veränderungen, die er in der Pubertät durchläuft. Es finden sich sogar Darstellungen über die weiblichen Fortpflanzungsorgane und die Menstruation. Eltern und selbst die meisten Lehrer sagen nun, dass Sexualkunde in dieser Form ungeeignet für Grundschüler ist.

Obwohl das Buch schon in Gebrauch ist, geht die öffentliche Debatte weiter. Einige beklagen eine zu konservative Einstellung zu Sex, die mangelndes Wissen über dieses Thema bei Chinas Jugendlichen zur Folge hat. Darüber hinaus sei dieser Wissensmangel, zumindest in Teilen, für die tragische Flut an Fällen verantwortlich, in denen Schülerinnen im letztes Jahr Opfer von Missbrauch wurden. Unzureichendes Wissen über Sex könne außerdem die Neugier junger Leute entfachen und dazu führen, dass sie ohne die nötigen Verhütungsmaßnahmen von der „verbotenen Frucht" essen.

Andere vertreten die Ansicht, Sexualkunde müsse diskreter sein, um das Interesse der Schüler an Sex nicht unnötig anzuheizen.

 

Den „Mythos Sex" auflösen

Si Hanhan (www.gmw.cn): Sexualunterricht hinkt noch immer der tatsächlichen Entwicklung unserer Kinder hinterher. Traditionelle Schulbücher befassen sich kaum mit diesem Thema und bauen dementsprechend ein noch größeres Mysterium um das Thema Sex auf. Ohne dazugehöriges Schulbuch wissen die Lehrer allerdings nicht, wie sie den Kindern das Thema nahe bringen können und ihnen ihre körperliche Entwicklung erklären können. Die Kinder finden dann eigene Quellen, aus denen sie etwas über ihren Körper erfahren. Das ist meist unwissender Tratsch oder Gerüchte von den Mitschülern, letzten Endes kann es auch die Pornografie sein und somit zu fatalen Missverständnissen führen.

Offene und ehrliche Sexualkunde wie in diesem Schulbuch deutet auf einen gewissen Fortschritt hin, was das Verständnis und die Einstellung gegenüber Sex in der gesamten Gesellschaft angeht. In den vergangenen Jahren ist mehr als ein Fall bekannt geworden, in dem ein Lehrer seine Schüler sexuell genötigt hat. In einigen Fällen hatten die Opfer keine Ahnung, wie sie sich davor schützen konnten.

Indem man Schüler mithilfe von Zeichnungen und Diskussionen über ihre Fortpflanzungsorgane aufklärt, sichert man nicht nur ihre sexuelle Gesundheit während der Pubertät, sondern hilft ihnen auch, ihren eigenen Ursprung und ihr Wachstum und körperliche Entwicklung zu verstehen. Ihre Verwirrung und Neugier in Bezug auf Pubertät und Sex kann dadurch geklärt werden.

 

Chen Qianxuan (www.cnhubei.com): In den letzten Jahren ist eine steigende Zahl an Kindern zu Opfern von Missbrauch geworden. Die in den Medien aufgedeckten Fälle sind vermutlich nur die Spitze des Eisbergs, bedenkt man die Gefahren unserer modernen Welt.

Aufklärung über sexuelle Gesundheit findet sich nun auf dem Lehrplan der Grundschulen. Die Frage ist, wie dieses Ziel ereicht werden kann. Gemäß unserer Kultur sind die meisten Chinesen eher konservativ, wenn es um das Thema Sex geht. Als die Lehrer an Wuhans Grundschulen das neue Lehrbuch erhielten, waren sie zuerst geschockt. Auch die Schüler schämten sich, einige Mädchen weigerten sich, am Unterricht teilzunehmen. Lehrer und Schüler empfanden Sex als etwas geheimes, über das sie in der Öffentlichkeit nicht sprechen wollten. Die Lehrer müssen dennoch ihren Verpflichtungen nachkommen und auch die Eltern haben die Aufgabe, ihre Kinder so zu erziehen, dass sie sicher sind und keine Verwirrung herrscht.

Wenn ein Kind in China seinen Eltern die Frage stellt: „Wo komme ich her?", sind diese oft versucht zu antworten, sie hätten das Kind an einem Fluss oder im Park gefunden. Doch Eltern und Lehrer müssen in Bezug auf den Ursprung des Lebens ehrlich sein und das eigene Unwohlsein den Kindern zuliebe überwinden.

 

Li Zhaoqing (www.rednet.cn): China ist traditionell sehr konservativ in Bezug auf Sex. In den letzten 30 Jahren hat sich China in vielerlei Hinsicht geöffnet und reformiert, aber Sex bleibt eines der wenigen Themen, über das die Leute nicht in der Öffentlichkeit sprechen. Grund- und sogar Mittelschüler erhalten abgesehen von dem begrenzten Grundwissen aus ihren Biologiebüchern praktisch keine Sexualerziehung.

Trotzdem sind Jugendliche neugierig in Bezug auf ihren eigenen Körper und möchten mehr darüber wissen, was mit ihnen während der Pubertät passiert. Von dieser Neugier getrieben gehen dann einige sexuelle Beziehungen mit Mitschülern ein, ohne entsprechende Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, was ungewollte Konsequenzen wie Krankheiten oder Schwangerschaft zur Folge haben kann.

Wenn die Kinder informiert sind über ihre Körper und die Veränderungen, die sie durchmachen, werden solche Vorkommnisse dann seltener? Wir können nicht davon ausgehen, dass solche Dinge dann völlig verschwinden, aber zumindest werden Schüler die Gefahren dann kennen. Sie wissen dann, dass Sex zu Babies führen kann. Sie sind selber noch Minderjährige, die auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen sind, wie können sie dann ihre eigenen Kinder versorgen? Eine sexuelle Beziehung sollte etwas sein, dass im Rahmen der Ehe geschieht und nicht etwas zwischen zwei Schulkindern.

Es ist großartig zu sehen, wie in Wuhans neuem Schulbuch der Aufbau des menschlichen Körpers und die Veränderungen während der Pubertät veranschaulicht werden. Ein solcher Sexualkundeunterricht ist in Grundschulen notwendig, um das Bewusstsein dafür zu schaffen, wie Kinder sich schützen können, insbesondere Mädchen. Außerdem werden Schüler dann begreifen, wo sie eigentlich herkommen, statt von ihren Eltern Geschichten erzählt zu bekommen, sie wären in einem Mülleimer an der Straße gefunden und nach Hause genommen worden. Kinder, die ihren Eltern nicht glauben, versuchen selber die Wahrheit herauszufinden, was gefährlich sein kann.

 

Liu Guoqiang (www.chinanews.com): Sex ist ein normales körperliches und psychologisches Phänomen, aber das Wissen darüber wird nicht durch reine Instinkte gewonnen. Sexualerziehung ist daher notwendig und sollte nicht abgelehnt werden. Kinder haben einen anderen Blick auf Sex als Erwachsene. Während Erwachsene debattieren, ob das Schulbuch zu „direkt" sei, benötigen Schüler so ein Buch, um ihre Zweifel und Verwirrung in Bezug auf Sex abzustreifen. Wenn der Unterricht „durch die Blume hindurch" geschieht, werden die Kinder es nicht verstehen. Einige argumentieren, dass die direkte Darstellung sexueller Elemente zu offenherzig sei und die Reinheit des kindlichen Geistes gefährden würde. Dennoch ist die Grundschule ein wichtiger Moment für Sexualerziehung. Statistiken aus Ländern, in denen Sexualkunde fest auf dem Lehrplan steht, verzeichnen einen deutlichen Rückgang an vorehelichen Schwangerschaften und Sexualverbrechen unter Jugendlichen. Natürlich sollte Sexualkunde auf eine Weise stattfinden, die dem psychologischen Zustand von Kindern angemessen ist, doch dies ist nicht gleichzusetzen mit „konservativen" Methoden.

 

Vorsicht geht vor

Chen Mo (Xinhua Blog): Wenn die sexuelle Entwicklung einmal begonnen hat, können Bilder schnell die Libido eines Jugendlichen anregen. Die neuen Schulbücher in Wuhan konfrontieren die Schüler mit solchen Bildern, in der Hoffnung, effektive Sexualerziehung zu erzielen. Allerdings wird, statt die Schüler in die richtige Richtung zu lenken, eine so direkte Form der Sexualkunde nur dazu führen, dass die Kinder noch mehr an Sex denken und eventuell sogar sexuelle Handlungen begehen. Es ist schon möglich, dass einige Verfasser des Buches vergessen haben, dass Sex noch immer etwas verbotenes für Kinder ist.

Obwohl manche Menschen besorgt über das mangelnde Sexualwissen von Schülern sind, trifft man doch im Alltag praktisch nie jemanden, der rein gar nichts darüber weiß. Die Kinder haben freien Zugang zum Internet, wo sie fast alles zu dem Thema finden. Es ist toll, dass Sexualkunde nun in Wuhans Schulen vorangetrieben wird, doch wenn der Unterricht nicht vorsichtig durchgeführt wird, erhalten wir am Ende vielleicht das Gegenteil von dem, was wir wollen. Vermutlich ist es gefährlicher, die Kinder so direkt mit Sex zu konfrontieren, als sie unwissend zu lassen.