24-11-2014
Im Focus
Die chinesische Kunst der Kommunikation
von Valerie Sartor

China ist zu einer wirtschaftlichen Supermacht geworden, doch dieser Erfolg hat nicht dazu geführt, dass chinesische Geschäftsleute, Regierungsbeamte und andere Mitglieder der Elite sich der westlichen Art der Kommunikation angepasst hätten. Noch immer gibt es riesige Unterschiede in der Kommunikation von Chinesen und ihren westlichen Kollegen bzw. der ganzen Welt. Die primäre Funktion chinesischer Kommunikationsstrategien besteht maßgeblich darin, bestehende Beziehungen zwischen den Menschen zu erhalten und dabei Rolle und Status des Gesprächpartners zu betonen und zu beachten. Das Hauptziel besteht immer darin, die Harmonie innerhalb der Gruppe zu bewahren.

Anders als amerikanische kulturelle Normen, die vielleicht aufdringlich und individualistisch wirken, zielen die chinesischen Werte stets darauf ab, der Gruppe und der Familie zu dienen. Dementsprechend definieren sich Chinesen durch ihre Beziehungen zu andern – ein Chinese ist nur dann ganz und vollständig, wenn er sich in die sozialen Strukturen und seine Umgebung einfügt. Der Konflikt muss vermieden werden. Kommunikation dient dazu, Beziehungen zu vertiefen, nicht sie zu belasten. Das Hauptziel ist es, Harmonie zu schaffen und zu bewahren. Alle meine chinesischen Freunde sind sehr bestrebt, harmonisch mit ihren Familienmitgliedern, Nachbarn und Mitarbeitern zusammenzuleben. In meiner Zeit hier in China habe ich bemerkt, dass Chinesen erfolgreicher darin scheinen, ihre Beziehungen im Gleichgewicht zu halten als westliche Leute. Ich wollte wissen warum.

"Die Grundlage für den Erfolg chinesischer Beziehungen liegt in der chinesischen Wahrnehmung des Selbstes", sagt die Lehrerin Zhang, eine ältere Bewohnerin Huhhots in der Inneren Mongolei, die seit über 20 Jahren Ausländern wie mir Chinesisch beibringt. „Die buddhistischen Chinesen trennen das Selbst in zwei Seiten: das große Selbst und das kleine Selbst. Für Buddhisten und Taoisten ist das große Selbst der Teil von uns, der eins ist mit der Natur und dem Kosmos, er ist frei von Individualität. Das kleine Selbst ist unsere menschliche Seite mit ihren Bedürfnissen und Wünschen."

Zhang erklärt weiter, dass die konfuzianische Denkweise auch das chinesische Bild vom Selbst beeinflusst und betont, dass Kinder von früh an lernen, ihr großes Selbst auszubilden und das kleine Selbst zu disziplinieren. „Deshalb empfindet das wahre Selbst, ein zivilisierter chinesischer Mensch, soziale und ethische Verpflichtungen gegenüber anderen Mitgliedern der Gesellschaft. Er weiß, dass ein Mensch sich durch die Beziehungen zu anderen formt und durch diese beurteilt wird; wir leben nie alleine, wir alle brauchen die Interaktion mit anderen und mit der Welt, um unsere Identität zu formen." sagt sie.

Sicher versteht jeder, der über längere Zeit in China gelebt hat, wie mächtig diese Verbindungen sein können und wie besonders verwandtschaftliche Beziehungen es von einem Chinesen erfordern, den Respekt gegenüber den Eltern zu pflegen. Im Gegenzug erhält er dadurch Loyalität, Ehre und Anstand. Als ich das erste Mal David Meng, ein Professor, mit dem ich häufiger zusammengearbeitet habe, bat, mir etwas von sich zu erzählen, antwortete er einfach: „Ich kann mich selber nur als liebevoller Vater für mein Kind bezeichnen, als treuer Ehemann meiner Frau und als ergebener Sohn meiner Eltern... vielleicht auch als Professor seit 17 Jahren, aber als Person? Das ist schwierig... Heißt das, du willst meine Hobbies wissen?" Zuerst war ich davon sehr irritiert, da ich ja als Amerikanerin durch meine Kultur so sozialisiert worden bin, mich anders zu definieren. Im Gegensatz zur kollektiven Identifikation der Chinesen ist die amerikanische Vorstellung von Identität viel individualistischer.

"Ja, ihr westliche Leute denkt nur an eure eigenen Bedürfnisse, ihr wirkt auf uns wie Kinder, ohne Zurückhaltung oder Rücksichtnahme," sagte mir Professor Meng, als wir einmal kulturelle Unterschiede besprachen. „Wir werden so erzogen, an die Interessen von allen zu denken, nicht nur an unsere eigenen. Wenn zum Beispiel jemand Eheprobleme hat, wird ein Elternteil oder Verwandter auf die Bedürfnisse der anderen hinweisen: das involvierte Kind, die weitere Familie, oder sogar Freunde, die Teil des Netzwerks des Ehemannes oder der Ehefrau sind. Wenn sich eine Frau oder ein Mann scheiden lässt, denken die anderen womöglich, dass es ihm oder ihr an Toleranz und Selbstkontrolle mangelt."

"Aber ihr bleibt auch oft zusammen aus Angst vor dem, was die anderen Leute reden und dass ihr euer Gesicht verlieren könntet." erwiderte ich. „Ja, das stimmt. Aber das ist nicht alles." antwortet Meng. „Für Chinesen spielt es definitiv eine große Rolle, was die anderen über sie denken, vielleicht noch mehr als bei westlichen Menschen, da ihre Perspektive auf ihre Beziehungen auf die weite Zukunft ausgerichtet ist. Darüber hinaus erfordern unsere kulturellen Normen Bescheidenheit und Demut. Wir haben ein Sprichwort, laut dem ein chinesischer Gentleman mit sich selber strikt und mit anderen nachsichtig umgehen soll."

Im Gegensatz dazu höre ich oft meine amerikanischen Freunde Dinge sagen wie "Es ist mir egal, was die anderen sagen". Für sie ist das ein Zeichen von Selbstbewusstsein und Mut. Westliche Leute schämen sich nicht, anderen von ihren Errungenschaften, Talenten und Ambitionen zu erzählen. Das kann in chinesischen Ohren ungebührlich klingen.

Wie können Chinesen und westliche Leute sich da näherkommen und gegenseitig verstehen? Als bilinguale Lehrerin trete ich dafür ein, die Sprache des jeweils anderen zu lernen, schließlich sind Sprache und Kultur miteinander verknüpft. Denn sprachliches Verstehen führt zu gegenseitigem Respekt.

Die Autorin ist eine in Huhhot, in der Inneren Mongolei lebende Amerikanerin