25-07-2014
Im Focus
Chinas Polizisten bewaffnen sich
von Yin Pumin

Jahrzehntelang versahen Chinas Polizeibeamte ihren Dienst ohne Waffe. Nach der tödlichen Attacke in Kunming in der Provinz Yunnan im März dieses Jahres werden sie nun an der Schusswaffe ausgebildet. Die Öffentlichkeit fürchtet sich vor missbräuchlichem Waffengebrauch.

Polizeimanöver: Mitglieder einer Antiterroreinheit bei einer Übung in Shaoxing (Provinz Zhejiang) (WANG DINGCHANG)

Augen auf: Ein bewaffneter Polizist hält bei Qianmen, einer Touristenattraktion im Zentrum Beijings, Wache (XINHUA)

Am 15. Juli begann offiziell die zweite Phase der Schusswaffenausbildung für die Beijinger Polizei. Damit sollen vor allem die Beamten, die in Extremsituationen eingesetzt werden, ihre Reaktionszeiten verbessern.

"Verglichen mit dem vorherigen Training Ende Juni gibt es jetzt auch Schießübungen, die  kompliziertere Situationen simulieren. Die Polizisten müssen innerhalb von 1 bis 1,5 Sekunden unter großem Stress schießen", erklärt Li Qiang, stellvertretender Direktor der Fünften Sektion des Strafermittlungskorps der Behörde für öffentliche Sicherheit in Beijing. 

Seit April gehen in einigen Großstädten wie Beijing und Shanghai Polizisten bewaffnet auf Streife. Hintergrund ist die tödliche Messerattacke am 1. März in Kunming, bei der 29 Menschen getötet und 143 weitere verletzt wurden. Dabei wurde die örtliche Polizei beschuldigt, bei der Überwältigung der Täter versagt zu haben, weil sie keine Schusswaffen bei sich trug. Die Zunahme der bewaffneten Polizeistreifen hat in der Öffentlichkeit allerdings auch zu größerer Sorge über einen vernünftigen Waffeneinsatz geführt.

 

Aufrüstung

Am 20. April gingen in den Straßen Shanghais rund 1000 bewaffnete Polizisten Streife, zusätzlich ausgerüstet mit Munition, Tränengas, Schlagstöcken, Handschellen, Erste-Hilfe-Ausrüstung, Taschenlampen und Funkgeräten.

"Gewaltverbrechen sowie das extreme Verhalten einiger Individuen sind zu einer echten Bedrohung für die öffentliche Sicherheit geworden", sagt Rui Minghua, leitender Polizeibeamter in Shanghai. „Von jetzt an wird die Polizei in der Lage sein, mit ähnlichen Situationen wie in Kunming fertig zu werden." Viele Jahre wurde der Schusswaffengebrauch wegen der niedrigen Kriminalitätsrate streng kontrolliert. Das letzte Mal sei die Polizei vor 60 Jahren bewaffnet durch die Straßen von Shanghai patrouilliert, berichtet Rui.

Die steigende Kriminalität der letzten Jahre ließ jedoch Forderungen nach bewaffneten Beamten lauter werden. Im Januar 2011 erschossen zwei Männer in Tai'an (Provinz Shandong) vier Polizisten und verletzten fünf Beamte. Die unbewaffneten Polizisten hatten bei Mordermittlungen das Haus eines Verdächtigen aufgesucht. Als sie sich zu erkennen gaben, eröffneten die zwei Männer im Inneren des Hauses das Feuer. Ein ähnlicher Vorfall ereignete sich am 29. März diesen Jahres in Yidu (Provinz Hubei). Dort wurde ein Polizist erstochen. Hu Qinchun konnte sich offenbar nur mit einem Schlagstock zur Wehr setzen. "Die Einführung bewaffneter Streifen soll die Kampfkraft der Polizisten verbessern und die öffentliche Sicherheit gewährleisten", erklärte Yan Zhengbin, stellvertretender Direktor der Behörde für öffentliche Sicherheit (MPS).

Nach Shanghai haben auch Städte wie Beijing, Nanjing (Provinz Jiangsu) und Ürümqi (Uigurisches Autonomes Gebiet Xinjiang) die Zahl der bewaffneten Polizeistreifen erhöht. Bewaffnete Beamte sollen landesweit regelmäßig in Schlüsselzonen und an Orten mit großen Menschenansammlungen wie Bahnhöfen, Flughäfen, Shopping-Malls, Schulen und Krankenhäusern patrouillieren, so Yan. 

"Die Präsenz bewaffneter Polizisten auf den Straßen wird zur Verbrechensvorbeugung beitragen und das Sicherheitsgefühl erhöhen", meint Dai Peng, Direktor der Strafermittlungsbehörde der People's Public Security University in Beijing. „Das Hauptproblem ist die Regulierung des Schusswaffengebrauchs, damit Beamte ihre Macht nicht missbrauchen."

 

Trainings und Übungen

Die Vorschriften über Polizeiausrüstung und Polizeiwaffen, die 1996 in Kraft traten, legen 15 Situationen fest, in denen der Schusswaffengebrauch erlaubt ist. Dazu zählen Brandstiftung, Explosionen, Mord, Geiselnahmen, Flugzeugentführungen und weitere schwere Verbrechen, die die öffentliche Sicherheit bedrohen. Polizisten dürfen schießen, wenn ein Verdächtiger sich trotz einer Warnung nicht ergibt, wenn keine Zeit für eine Warnung bleibt oder wenn eine Warnung fatale Folgen haben könnte.

Die Vorschriften beschreiben aber auch vier Situationen, in denen der Schusswaffengebrauch verboten ist: Das gilt, wenn eine verdächtige Person schwanger oder minderjährig ist, es sei denn, sie hat ein Gewaltverbrechen begangen; wenn sich der Verdächtige in einer großen Menschenansammlung oder an einem Ort mit leicht entzündlichen, explosiven, giftigen oder radioaktiven Materialien befindet, es denn, der Verzicht auf den Waffengebrauch könnte noch fatalere Konsequenzen haben; und wenn der Verdächtige seine kriminelle Handlung abbricht oder nicht in der Lage ist, weitere Verbrechen zu vergehen.

Trotz all dieser Regeln: Gesetze und Vorschriften entstanden in einer Zeit, die sich von der heutigen Sicherheitslage unterscheidet. Einige Bestimmungen seien daher nicht genau genug, meinen Rechtsexperten. Problematische Vorschriften könnten die schnelle und korrekte Reaktion der Polizei auf ein Verbrechen verhindern, meint Ma Zhenchuan, ehemaliger Direktor der Behörde für öffentliche Sicherheit in Beijing. Als Beispiel führt er den terroristischen Angriff in Kunming an. „Der Beamte, der am Ende die vier Täter erschoss, musste erst auf die Erlaubnis des Kommandozentrums warten. Unsere Vorschriften hätten ihm die klare Anweisung geben sollen, selbst vor Ort über sein Vorgehen zu entscheiden", erläuterte er.

Unter Druck eine Entscheidung zu treffen und dabei gleichzeitig alle Vorschriften zu beachten, sei schwierig, warnt Yu Lingyun, Professor an der juristischen Fakultät der Tsinghua-Universität. In einer bedrohlichen Situation blitzschnell richtig zu entscheiden, erfordere langes und konsequentes Training, so Yu weiter. „Dabei müssen technische, juristische und mentale Aspekte berücksichtigt werden."

Anfang April startete die Behörde für öffentliche Sicherheit spezielle Schießübungen  für alle Sicherheitskräfte. Nach Angaben der Behörde ist das Training vor allem für Streifenpolizisten und Beamte gedacht, die mit Notfallsituationen in Großstädten und auf Kreisebene konfrontiert werden. Zur Ausbildung gehören rechtliche Informationen und Kampftrainings. Laut Plan sollen rund 10.000 Ausbilder Polizeibeamte im Schusswaffengebrauch unterrichten. Jeder Bezirk auf Kreisebene hat im Schnitt drei Ausbilder. Die öffentlichen Sicherheitsorgane aller Ebenen sollten Regeln und Vorschriften für Routineübungen und befristete Intensivtrainings aufstellen sowie standardisierte langfristige Ausbildungsangebote schaffen, um die praktischen Fähigkeiten der Beamten zu verbessern, hieß es.  

 

Strenge Kontrollen

Am 29. Mai wurden fünf Personen verletzt, weil eine Polizeiwaffe bei einem Sicherheitstraining in einem Kindergarten in Zhengzhou (Provinz Henan) versehentlich abgefeuert wurde. Die Kugel traf den Boden, herumfliegende Splitter verletzten vier Erwachsene und ein Kind. "Der Fall zeigt, dass der Polizist nicht wusste, wie er mit seiner Waffe umzugehen hat, ein weit verbreitetes Problem", erklärt Pi Yijun, Professor an der Universität für Politik- und Rechtswissenschaften in Beijing.

Verglichen damit hat die lasche Verwaltung der Polizeiwaffen deutlich größere Bedenken in der Öffentlichkeit ausgelöst. Allein im Mai berichteten die Medien über drei Fälle verlorengegangener Waffen. Obwohl alle betroffenen Beamten entlassen oder bestraft wurden, ist die negative Auswirkung auf die öffentliche Meinung offensichtlich.

Auch die Rechtmäßigkeit des polizeilichen Schusswaffengebrauchs wurde häufig in Frage gestellt.  Am 30. Mai erschoss ein angeblich betrunkener Polizist während einer Auseinandersetzung in Qijing (Provinz Yunnan) einen Dorfbewohner. Interne Ermittlungen ergaben, dass sich der Schuss irrtümlich löste und der Polizist zum Tatzeitpunkt nüchtern war. Am selben Tag erschoss ein Beamter im Bezirk Sansui  (Provinz Guizhou) einen Betrunkenen, der seine Frau bedroht hatte.

Polizisten sollten nur im Zuge der Terrorismusbekämpfung oder bei anderen Gewaltverbrechen von ihrer Waffe Gebrauch machen, fordert Hong Daode, Juraprofessor an der Universität für Politik- und Rechtswissenschaften. "Sie sollten darin ausgebildet werden, gewaltbereite Terroristen von normalen Leuten, die in Ausnahmesituationen zu extremen Verhalten greifen, unterscheiden zu können. Bei letzteren muss die Polizei in der Lage sein, auf den Waffeneinsatz zu verzichten", so Hong.

Um die Sicherheit zu gewährleisten und eine missbräuchliche Nutzung zu verhindern, hat die Behörde für öffentliche Sicherheit in Shanghai besondere Vorschriften zum Waffengebrauch herausgegeben. "Beamte müssen beispielsweise einen Bericht schreiben, wenn sie eine Waffe gezogen haben, egal, ob mit ihr geschossen wurde oder nicht", erklärt Rui. Sofort nach Waffengebrauch muss der Beamte vor dem Kommandozentrum Bericht erstatten und innerhalb von sechs Stunden einen ausführlichen schriftlichen Bericht einreichen. Wenn es Verletzte gegeben hat, muss der Beamte ebenso angeben, was er vor dem Schuss gehört und gesehen hat, welche Warnungen er ausgesprochen hat, wie oft er geschossen hat und wie groß die Entfernung zwischen ihm und den Verdächtigen war.

Nach Angaben der Behörde für öffentliche Sicherheit sollen Betreuer und Psychologen Polizisten begutachten, bevor ihnen eine Waffe ausgehändigt wird. Personalakten und Beratungsgespräche seien Teil dieses Evaluierungsprozesses, hieß es weiter. Falls sie auf einen Verdächtigen geschossen haben, müssten Beamte an Beratungsgesprächen teilnehmen, erklärt Bing Minghua, Direktor der Polizeistreifenausbildungsabteilung der Behörde für öffentliche Sicherheit in Shanghai.

Qu Xinjiu, Dekan des Instituts für Strafrecht an der Universität für Politik- und Rechtswissenschaften in Beijing, fordert, dass Staatsanwälte den polizeilichen Schusswaffengebrauch überwachen und einschreiten, wenn die Öffentlichkeit die neutrale Überprüfung einer Schießerei fordert. "Die Staatsanwaltschaft sollte anhand unabhängiger Ermittlungen eigene Schlussfolgerungen darüber anstellen, ob ein Schuss legitim, gerechtfertigt oder nicht gerechtfertigt war, so Qu.

"Schusswaffen sind weder schlecht noch gut. Alles hängt vom Benutzer ab", resümiert Wang Honwei, Professor an der Fakultät für Öffentliche Verwaltung und Politik der Renmin-Universität in Beijing.