Schlechte Schulbildung und mangelnde elterliche Fürsorge: Kindern von Wanderarbeitern werden zunehmend gewalttätig. Die Besorgnis wächst.
Erziehung unter Zeitdruck: Zwei Jungen spielen auf einem Markt in Jinan (Provinz Shandong) in der Nähe der Gemüsestände ihrer Eltern (CFP)
Eine Reihe von Straftaten, begangen von Kindern von Wanderarbeitern, hat jüngst für Schlagzeilen und große Beunruhigung in China gesorgt. Viele fragen sich nun, warum die Jugendlichen zu Gewalttätern geworden sind.
Offiziellen Statistiken zufolge gibt es mehr als 262 Millionen Wanderarbeiter in China, auf der Suche nach Arbeit zogen sie aus ländlichen Gebieten in die Stadt. Als Hilfsarbeiter haben sie oft sehr lange Arbeitszeiten und sind nicht in der Lage, sich angemessen um die Erziehung und Ausbildung ihrer Kinder zu kümmern. Einige der Kinder organisieren sich daher in Banden oder stehlen, ihnen fehlen Eltern, die sie zum Schulbesuch anhalten und auf den richtigen Weg bringen.
Am 25. Mai tauchte im Internet ein Video auf, das zeigte, wie eine Gruppe Jugendlicher einen Jungen attackierte. Das Video verbreitete sich schnell, Schock und Empörung waren groß. Neun Minuten lang sieht man, wie drei lachende Jugendliche einen um Gnade flehenden Jungen schubsen und treten. Am Ende schlägt einer der Angreifer den Jungen mit einem Stein auf den Kopf, bis dieser das Bewusstsein verliert.
Einen Tag, nachdem das Video im Internet erschien, stellte sich Guo (15), einer der Täter, der Polizei. Seine beiden Mittäter im Alter von 15 und 17 Jahren konnten daraufhin noch am selben Tag von der Polizei in der Provinz Hebei aufgespürt werden. Die beiden Jugendlichen aus der Provinz Gansu gestanden die Tat. Alle drei Täter waren Schulabbrecher. Das Opfer, ein 14-jähriger Schüler, erzählte der Polizei, dass er seinen Angreifer aus der Nachbarschaft kannte. Er sei von Guo irrtümlich verdächtigt worden, ihn bei der Polizei wegen einer anderen Schlägerei im April verraten zu haben. Guo war wegen dieser Tat festgenommen worden. „Ich habe aber nichts erzählt", erklärte das Opfer der „Beijing News" am 26. Mai.
Nach einem Bericht von China National Radio finden ähnliche Körperverletzungen im Dorf Naixi im Bezirk Chaoyang ( Beijing) , wo sich auch die Schlägerei aus dem Video ereignete, täglich statt. Bei den Tätern handele es sich um arbeitslose Jugendliche, meist ohne Schulabschluss, hieß es. Das Dorf im Norden Beijings hatte ursprünglich weniger als 2300 Einwohner, in den vergangenen Jahren sind 40.000 bis 50.000 Wanderarbeiter mit ihren Familien dorthin gezogen. Opfer und Täter stammen beide aus Wanderarbeiterfamilien.
Zahl der Wanderarbeiter steigt
Zurzeit reformiert China sein Hukou-System, das Chinas Bevölkerung in Stadt- und Landbewohner unterteilt. Die Reform soll Wanderarbeitern den Zugang zu grundlegenden städtischen Dienstleistungen erleichtern. Aufgrund der aktuellen Situation können einige Wanderarbeiter ihre Kinder nicht in öffentlichen Schulen an ihrem Wohnort anmelden. Viele Städte müssen sogar darum kämpfen, Kindern, die im Besitz eines örtlichen Hukous sind, einen Schulplatz zur Verfügung stellen zu können. Infolgedessen erlauben viele Wanderarbeiter ihren Kindern, die Schule abzubrechen oder sie schicken sie in private Schuleinrichtungen ohne offizielle Genehmigung, in denen die Qualität des Unterrichts nicht sichergestellt werden kann.
Am 27. Mai veröffentlichte der Obere Volksgerichtshof von Beijing ein Weißbuch über die Jugendkriminalität in der Hauptstadt im Jahr 2013. Das Weißbuch ist das erste seiner Art in China. Darin heißt es, dass die Täter in 77,4 Prozent von 1097 Fällen keine oder nur eine geringe Schulbildung hatten und 65,3 Prozent nicht aus Beijing stammten. Weiterhin heißt es, dass die jugendlichen Opfer, vor allem im Fall sexueller Übergriffe, meist Kinder von Wanderarbeitern waren, obwohl es keine öffentlichen Statistiken dazu gibt. Meist kannten sich Opfer und Täter, bei den Tätern handelte es sich um Lehrer, Nachbarn oder Personen, die aus der selben Stadt wie die Opfer stammten.
Ermittlungen hätten gezeigt, dass die überwiegende Mehrheit der Wanderarbeiter sehr lange Arbeitszeiten in Kauf nehmen muss, um über die Runden zu kommen, so dass sie ihre Kinder alleine zu Hause lassen und nicht von der Schule abholen können. Die Kinder werden daher leicht zu Opfern von Dieben und sexuellen Übergriffen. Den Eltern fehlt außerdem die Zeit, sich für die schulische Ausbildung ihrer Kinder zu engagieren, so dass diese eher den Unterricht schwänzen, was sie wiederum anfälliger für kriminelle Handlungen macht.
Laut Weißbuch werden Jugendliche aus ländlichen Gebieten, die ohne ihre Eltern ihren Lebensunterhalt in Beijing verdienen, besonders leicht zu Kriminellen. „Da sie oft keinen festen Arbeitsplatz und Wohnsitz haben, werden sie schnell kriminell, sobald sie Probleme haben, sich selbst zu ernähren", hieß es. Das häufig niedrige Bildungsniveau, der abrupte Wechsel des Umfelds und das Erlebnis des großen Wohlstandsgefälles in Beijing sind Faktoren, die das Kriminalitätsrisiko für diese Jugendlichen erhöhen.
Eine ähnliche Untersuchung wurde von der Volksstaatsanwaltschaft des Bezirks Qingpu in Shanghai durchgeführt. Untersucht wurden 253 Fälle von Jugendkriminalität zwischen 2009 und 2011 mit insgesamt 343 Tatverdächtigen. 293 (85,4 Prozent) hatten keinen lokalen Hukou, 208 (60,6 Prozent) waren Kinder von Wanderarbeitern.
Die Untersuchung zeigte, dass Kinder von Wanderarbeitern eher dazu neigen, Delikte wie Überfälle, Raub und Ruhestörungen zu begehen, die impulsives Verhalten und Gewalt beinhalten. Verglichen mit ihren Altersgenossen neigen sie ebenfalls eher dazu, sich in Banden zu organisieren. Dieselbe Studie zeigte auch, dass Kinder aus Wanderarbeiterfamilien höhere Rückfallquoten aufweisen.
Laut einem Bericht des Shanghaier Magazins Xinmin Weekly aus dem Jahr 2013 ist die Kriminalitätsrate unter Kindern von Wanderarbeitern dramatisch höher als unter örtlichen Altersgenossen oder in der Generation ihrer Eltern.
|