27-06-2014
Im Focus
Ein Jahrhundert danach: Der Erste Weltkrieg aus chinesischer Sicht
von Gao Zhuan

 
Gedenkveranstaltung in Paris: Am 7. Juni 2013 legten Überseechinesen in Frankreich erstmals einen Kranz am Arc de Triomphe nieder. Mit den Feierlichkeiten wurde der Kuli-Arbeiter gedacht, die während des Ersten Weltkrieges einen großen Beitrag zum Sieg Frankreichs geleistet und teilweise sogar ihr Leben gelassen hatten. Insgesamt 500 Vertreter von Überseechinesen, chinesischen Auslandsstudenten und offizielle Vertreter Frankreichs nahmen an der Zeremonie teil.
 
Vor einhundert Jahren brach die wohl bis dahin verheerendste Katastrophe der Menschheit aus: der Erste Weltkrieg. Obwohl dieser Krieg, der von 1914 bis 1918 dauern sollte, in Europa entfesselt wurde, wurden auch viele Länder außerhalb Europas darin verwickelt. Mehr als 60 Millionen Soldaten aus fünf Kontinenten zogen gegen einander zu Felde und beinahe jeder sechste Mann starb, Unzählige wurden verwundet und verletzt. Der Erste Weltkrieg wurde damals zwischen den Mittelmächten und der Entente geführt. Zu den ersteren zählten vor allem das Kaiserreich Deutschland und Österreich-Ungarn, zur letzteren hauptsächlich die französische Republik, das russische Zarenreich und die britische Monarchie. Die Rechtsnachfolger dieser Staatsgebilde sind heute zumeist in der EU. Ein Jahrhundert nach der Tragödie halten sie verschiedenste Veranstaltungen ab, um der Schrecken des Krieges zu gedenken. Auch in anderen Erdteilen – von Kroatien in Südosteuropa bis nach Australien und Neuseeland in der südlichen Hemisphäre – finden Gedenkveranstaltungen statt.

Es ist eine unbestrittene Tatsache, dass das Thema „China und der Erste Weltkrieg" bis vor wenigen Jahren in der weltgeschichtlichen Forschung weitestgehend ignoriert wurde. Jedoch übte der Krieg nachhaltigen Einfluss auf die neuere und neueste chinesische Geschichte aus. Während dieser vier Jahre wurde in China ein parlamentarisches und Präsidialsystem nach westlichem Vorbild praktiziert und gleichzeitig der Versuch unternommen, eine Restauration des chinesischen Kaisertums zu vollziehen. In seiner Außenpolitik war China völlig ohnmächtig und von außenpolitischer Selbstständigkeit konnte kaum eine Rede sein. Chinas Außenpolitik wurde schlechthin von den Großmächten manipuliert. Die Haltung der chinesischen Regierung zum Krieg legte die grotesken Verrenkungen des politischen Systems sowie die politische Schwäche des Landes an den Tag. Von der „Bewahrung der strengen Neutralität" zu Beginn des Krieges über die „Kriegserklärung ohne kriegerische Handlung" und die Entsendung von Kuli-Arbeitern als zivile Helfer der Entente in der mittleren und späteren Phase des Kriegs bis hin zur diplomatischen Niederlage auf der Pariser Friedenskonferenz lässt sich eine geschichtliche Abfolge von Demütigungen für China nachzeichnen. Insbesondere durch die Pariser Friedenskonferenz deckten Chinas Intellektuelle und die Bevölkerung des Landes die hochverräterischen Taten der „War Lords" auf und erkannten zugleich das wahre Gesicht der westlichen Mächte, die „barbarisch handeln, aber von der Zivilisation schwadronieren". Chinas schmachvolle Niederlage auf der Pariser Friedenskonferenz löste unmittelbar danach die bekannte 4.-Mai-Bewegung aus, die bedeutendste politische und kulturelle Erneuerungsbewegung in Chinas neuester Zeit, und bewirkte ein historisches Erwachen der chinesischen Nation.

 

Ursachen und Wesen des Ersten Weltkriegs

Stellt man Reflexionen über den Ersten Weltkrieg an, sollte man vor allem die Ursachen und das Wesen dieses Krieges erkennen. Das ist auch heute noch wichtig für die Unterscheidung zwischen Richtig und Falsch in der internationalen Lage. Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an ging der vorherrschende Kapitalismus allmählich in Imperialismus über. In der internationalen Lage wich das traditionelle System zur Erhaltung des Gleichgewichts der europäischen Mächte einem auf koloniale Expansion ausgerichteten neuen System der Großmächte. In allen wichtigen europäischen Ländern zeichnete sich eine Politisierung der Nationalstaaten ab. Der Militarismus gewann an Popularität. Beim Drang nach dem Erwerb von Herrschaftsgebieten in außereuropäischen Regionen wirkten verschiedene Motive zusammen: Es handelte sich zum einen um nationale Macht- und Prestigebedürfnisse, zum anderen um ein Streben nach der Erweiterung und Sicherung von Absatzmärkten und Rohstoffquellen durch Waffengewalt. Hinzu kamen religiöse und zivilisatorische Missionierungsideen. Großbritannien, das Chinas Hongkong besetzte, beispielsweise verbreitete eigene „universelle Werte": „Wir sind die erste Rasse der Welt und es ist um so besser für die menschliche Rasse, je mehr von der Welt wir bewohnen ... Gott formte offenkundig die englische Rasse zu seinem ausgewählten Werkzeug, durch welches er einen Zustand der Gesellschaft hervorbringen will, der auf Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden gegründet ist." Auch Wilhelm II., der das Deutsche Kaiserreich führte und seine „Weltpolitik" durchsetzen wollte, nahm kein Blatt vor den Mund, nachdem deutsche Truppen 1897 Jiaozhou in Shandong eingenommen hatten. Er sagte: „Wenn jemand versuchen sollte, unsere legitimen Rechte zu schädigen und uns Schaden zuzufügen, dann sollten wir nach Kanonen greifen und Waffengewalt gegen ihn anwenden."

Die imperialistische Politik schuf weltweit vielfältige Rivalitäten zwischen den europäischen Großmächten und die neuen Krisen wirkten wiederum auf die Politik in Europa zurück. Obwohl die Ausgangssituationen der Großmächte recht unterschiedlich waren, war das Wesen der von ihnen betriebenen imperialistischen Politik das gleiche. Beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges waren über 84 Prozent der Erdoberfläche in der Hand des Europäertums. Durch das Attentat auf den Kronprinzen Franz Ferdinand der k.u. k Monarchie und seine Frau am 28. Juni 1914 in der damaligen bosnischen Hauptstadt Sarajevo wurde deshalb ein verheerender Krieg vom Zaune gebrochen, nicht weil ranghohe deutsche Entscheidungsträger wie zum Beispiel Bethmann Hollweg die Lage, insbesondere die russische Kriegsbereitschaft, falsch eingeschätzt hatten, sondern weil die imperialistische Expansion Europa quasi zu einem Pulverfass gemacht hatte. Die Ermordung des Thronfolgers der Donaumonarchie wirkte lediglich wie ein auslösender Funke. Bereits am Ende des Ersten Weltkrieges hat Li Dazhao, der frühere Wortführer für die Verbreitung des Marxismus in China, in seinem berühmten Aufsatz „Sieg des einfachen Volkes" die Ursachen dieses „in der Geschichte so nie da gewesenen Krieges" analysiert: „Wir erinnern uns noch an die Entstehung dieses Krieges. Es handelte sich um nichts anderes als die Konfrontation von ,Großen Ismen', wir hörten etwa vom ,Großen Germanentum', ,dem Großen Slavismus' (...) und ,Großen Japanismus' usw.". Die Ursachen des Krieges entschieden über dessen Wesen. Dazu sagte Lenin zutreffend, „dass der Krieg von 1914 – 1918 auf beiden Seiten ein imperialistischer Krieg (d.h. ein Eroberungskrieg, ein Raub- und Plünderungskrieg) war, ein Krieg um die Aufteilung der Welt, um die Verteilung und Neuverteilung der Kolonien, der ,Einflusssphären' des Finanzkapitals usw.".

Auf Grundlage der Erkenntnis über das Wesen des Krieges wird die Absurdität von Äußerungen des japanischen Premiers Shinzo Abe ersichtlich. Während seiner Teilnahme am Weltwirtschaftsforum in Davos griff er in seiner Rede vom 22. Januar dieses Jahres China unverfroren an. Er verglich die chinesisch-japanischen Beziehungen der Gegenwart völlig irreführender Weise mit den Beziehungen zwischen Deutschland und Großbritannien beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Er behauptete: „Obwohl die Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Ländern sehr eng waren, konnte die Konfrontation letztendlich nicht vermieden werden." Das ist eine heimtückische Falle in der politischen Rhetorik. Der Kernpunkt liegt darin, dass das friedlich aufstrebende heutige China mit dem die wilhelminische Weltpolitik betreibenden Kaiserreich Deutschland gleichgesetzt wird, indem unter Zuhilfenahme einiger zufälliger wirtschaftlicher Daten der Unterschied im politischen Wesen des heutigen China zu dem Deutschlands vor einem Jahrhundert vertuscht wird.

Rolle der chinesischen Kuli-Arbeiter als zivile Helfer der Entente

Bereits seit Ausbruch des Krieges rangen die verschiedenen politischen Kräfte in China mit der Unterstützung der unterschiedlichen Großmächte um die Position der chinesischen Regierung zum Krieg. Aus diesem heftigen politischen Kampf ging letzten Endes Premierminister Duan Qirui als Sieger hervor. Mit der Unterstützung Japans verkündete China am 14. August 1917 die Kriegserklärung gegen die Mittelmächte, ohne jedoch einen einzigen Soldaten an die Front in Europa zu entsenden. Japan, das im ganzen Vorgang die Fäden hinter den Kulissen gezogen hatte, behielt schon immer die Ausdehnung seiner Einflusssphäre in der ostchinesischen Provinz Shandong vor Augen.

Chinas Beteiligung am Krieg erfolgte allenfalls durch die Entsendung der chinesischen Kuli-Arbeiter in die Länder der Entente. Während des ersten Weltkrieges wurden etwa 150.000 Kulis angeworben, die vor allem aus der Provinz Shandong kamen und für die Arbeit in der Logistik in Frankreich und Großbritannien eingesetzt wurden. Aus Sicht der Engländer „ist die Provinz Shandong bevölkerungsreich. Die Einheimischen sind fleißig und das Klima dort ist ähnlich wie das in Europa. So sind diese Menschen besonders gut geeignet, als Arbeiter eingesetzt zu werden". Zu Beginn des Jahres 1916 kam der aus dem militärischen Dienst ausgetretene französische Oberst Georges Truptil als Agrartechniker nach China, um auf inoffiziellem Wege Arbeiter anzuwerben. Im Oktober des gleichen Jahres schickte das British War Office Thomas J. Bourne als Vertreter zum Anwerben chinesischer Arbeiter nach China. Von Ende 1916 an heuerten die britische Vertretung sowie französische Firmen in großem Stil chinesische Arbeiter im Norden des Landes an. Die damalige chinesische Regierung bezog demnach die Position, Hilfe im Geheimen zu leisten, „ohne eine offizielle Unterstützung zu verkünden". Ein Teil der in die Länder der Entente gebrachten chinesischen Arbeiter wurde für die Aushebung von Gräben an der Front eingesetzt, die anderen arbeiteten in der industriellen Produktion und verrichteten Transportarbeit im Hinterland. Etwa 5000 chinesische Arbeiter starben in der Fremde. Obwohl sie einen großen Beitrag zum Sieg Frankreichs und Großbritanniens geleistet und viele ihr Leben geopfert hatten, wurde ihr Verdienst nach Ende des Krieges kaum gewürdigt. Im Archiv des Britischen Parlaments liegen Akten, in denen eingestanden wird, dass „die chinesischen Arbeiter, obwohl sie mehr Risiken als die Arbeiter der anderen farbigen Rassen auf sich genommen hatten", nicht einmal kleine militärische Verdienstmedaillen erhielten. Nach dem Krieg wurden sie im Großen und Ganzen einfach nach China zurückgeschickt.

Für China lag die Bedeutung der Entsendung und des Einsatzes der chinesischen Arbeiter im Krieg darin, dass das Bewusstsein von der Arbeiterschaft unter dem chinesischen Volke wachgerufen wurde. Der große Pädagoge Cai Yuanpei gab nach dem Ende des Krieges die Parole der „Heiligen Arbeiterschaft" aus. Er sagte: „Wer aus unserer 400 Millionen zählenden Volksmasse – außer den 150.000 Arbeitern in Frankreich – hat sich unmittelbar am Krieg beteiligt? Es ist letztlich auch nichts Besonderes. Denn die spätere Welt wird eine Welt der Arbeiterschaft sein!"

1   2   >