16-02-2013
Im Focus
Schwellenländer: Noch Luft für Wachstum?
von Mei Xinyu

 

 

Obwohl die Schwellenländer ein Jahrzehnt explosiven Wachstums hinter sich haben, ist ihre Zukunft weiterhin ungewiss

Öko-Wirtschaft: Indische Arbeiter bei der Montage von Solarmodulen

 

 

Nachdem die Weltbank prognostiziert hat, dass der Anteil der Industrieländer an der weltweiten Wirtschaftsleistung 2013 auf unter 50 Prozent sinken könnte, haben westliche Mainstream-Medien in jüngerer Vergangenheit heftig darüber spekuliert, ob dieses Jahr ein historischer Wendepunkt für die Industrienationen wird.

Die nicht nachhaltige Hegemonie des Westens ist aber nicht unbedingt ein Hinweis darauf, dass diese entscheidende Wende in naher Zukunft stattfinden wird. Natürlich ist der Aufstieg der Schwellenländer in den vergangenen zehn Jahren nicht zu übersehen. Sie sehen sich aber auch mit immer neuen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Widersprüchen konfrontiert. Die Industrieländer unternehmen gleichzeitig alles, um das Chaos in Entwicklungsländern zu vermehren und so eine für sie ungünstige Situation zu wenden.

Der Aufstieg der Schwellenländer war die aufregendste Veränderung im internationalen wirtschaftlichen und politischen System seit Anbruch des neuen Jahrhunderts. Nach „zehn oder sogar 20 verlorenen Jahren" im Anschluss an die 1980er Jahre expandierte die Wirtschaft von Ost- und Südasien bis nach Lateinamerika und Afrika, all diese Länder schickten sich an, die westliche Welt beim Anstieg des Bruttoinlandprodukts zu überholen. Sogar die Subprime-Hypothekenkrise konnte dieses schwungvolle Wachstum nicht beenden. Sie führte vielmehr zu einer längeren Wachstumsphase mit milderen Rezessionssymptomen, als dies in den Industrienationen nach der Schuldenkrise der 1980er Jahre der Fall war.

2011 schossen die Bruttoinlandsprodukte (BIP) der Schwellenländer in die Höhe, sie machten 48,9 Prozent des BPI aus. Chinas Anteil lag bei 14,3 Prozent, das entspricht dem BPI der gesamten Eurozone. Zuvor verbesserte China außerdem seine Position als weltgrößter Exporteur und ersetzte 2010 die USA als global wichtigstes Herstellungsland.

Mit wachsender nationaler Stärke strebten die Schwellenländer auch nach mehr Einflussnahme bei der Konzeption und Umsetzung internationaler Wirtschaftsregeln. Das sieht man daran, dass sie bei der Welthandelskonferenz in Doha von einer Reihe von Themen, die von westlichen Ländern favorisiert wurden, ausgeschlossen wurden. Außerdem konnten sie ihre Stimmanteile in großen internationalen Finanzorganisationen wie der Weltbank und dem IWF erhöhen.

 

 

Gefährdetes Wachstum

 

Bauboom: Arbeiter auf dem 69. Stock des Shanghai Towers. Nach seiner Fertigstellung wird er das höchste Gebäude der Stadt sein.

 

Im vergangenen Jahrzehnt hing der Aufschwung in den meisten Schwellenländern allerdings in hohem Maße vom primären Rohstoffsektor ab. Der „Super Circle" der Rohstoffe kurbelte die Wirtschaft seit 2002 an. Verglichen mit einem Wachstum auf Basis der herstellenden Industrie, birgt der schnelle Aufschwung auf dem Rohstoffsektor aber einige unüberbrückbare Schwachstellen: starke ökonomische Fluktuationen, steigende Einkommensunterschiede, Anlageblasen und wachsende soziale Spannungen.

Die Globalisierung ist für die wirtschaftliche Entwicklung dieser Länder und Regionen ein zweischneidiges Schwert. Einerseits ermöglicht sie ressourcenreichen Schwellenländern die Erschließung des boomenden Rohstoffmarkts. Weniger Handelsschranken erlauben zudem den Zugang zu einem breiteren Markt, der freie Kapitalfluss ermöglicht mehr Investitionen als je zuvor. Auf der anderen Seite ist die Globalisierung dafür verantwortlich, dass die produzierende Industrie zu einem frühen Zeitpunkt abgewürgt wurde und ein Prozess der Deindustrialisierung einsetzte. Russland, ein Land, das hart vom Zusammenbruch der Sowjetunion getroffen wurde, macht da keine Ausnahme, auch Brasilien nicht, obwohl es nie große Umbrüche wie einen Staatszerfall erlebte.

Schwellenländer, die weniger vom Rohstoffsektor abhängig sind, stehen im existierenden Währungssystem durch das internationale Zahlungsungleichgewicht unter Druck -- eine chronische Bedrohung für die wirtschaftliche Stabilität. Wirtschaftlicher Wohlstand vergrößert dieses Ungleichgewicht noch, denn eine starke heimische Nachfrage fördert Importe, während die Auslandsnachfrage nicht zwingend mit gleicher Geschwindigkeit steigt.

Da das Wachstum der Schwellenländer im vergangenen Jahrzehnt in höchstem Maße von Kapitalzufluss und Kreditausweitung abhing, haben Konjunkturflauten und Rezessionen einige der „heißen neuen Märkte" schwer getroffen. Mit dem wachsenden Zustrom von „heißem Geld", mit Anlageblasen und Schulden, die durch blindes Wachstum und Investitionen verursacht wurden, zeigt sich der Inflationsdruck immer offenkundiger.

 

 

Soziale Probleme

Es ist beachtenswert, dass eine wirtschaftliche Wende soziale Konflikte verstärken und sogar hervorrufen kann. Eine wirtschaftliche Krise, die durch eine soziale Krise vertieft wird, wäre eine ernsthafte Herausforderung für die Schwellenländer. 

In den vergangenen zehn Jahren haben die neuen Märkte insgesamt ein explosives Wachstum erlebt, aber gesellschaftliche Widersprüche bestehen weiter. Wenn neben der Wirtschaft auch die ungerechte Verteilung des Einkommens und die Korruption wachsen, dann nehmen soziale Ungleichheiten zu. Wenn die Regierung von Interessengruppen in Geiselhaft genommen wird, dann kann das Wachstum nicht der Allgemeinheit zu Gute kommen. Und genau das war in den meisten Entwicklungsländern der Fall.

Nehmen wir Indien als Beispiel. Das Land wurde für seine große Mittelschicht mit geschätzten 300 Millionen Angehörigen gepriesen, sein auf heimischer Nachfrage basierendes Wachstumsmodell galt dem chinesischen auf Export beruhenden Modell als weit überlegen. Wegen starker Verteilungsungleichheiten fiel nach Beginn des neuen Jahrtausends, als der Slogan "India Shining" in aller Munde war, der Pro-Kopf-Getreideverbrauch jedoch von 174 Kilo (1997-1998) auf 151 Kilo (2003-2004), das ist das niedrigste Niveau seit dem Zweiten Weltkrieg. 2006 lag die Mangelernährungsrate bei 20 Prozent, 6 Prozent höher als im globalen Durchschnitt. Von 1000 Kindern starben 57,4, auch das ist mehr als im weltweiten Durchschnitt (49,5 Todesfälle). Diese Zahlen zeigen deutlich wichtige Mängel in puncto Einkommensverteilung, soziale Gerechtigkeit und Lebensstandards in Indien auf. Zudem hat Indien bislang wenig Fortschritte bei der Bekämpfung der Mangelernährung gemacht und liegt hier deutlich hinter China, Vietnam und Laos zurück.

Auch wenn viele Entwicklungsländer einen ökonomischen Boom erlebten, waren im Rückblick doch nur wenige in der Lage, sich den Status einer Industrienation zu erobern.

In den nächsten zehn oder zwanzig Jahren beginnt für Schwellenländer wahrscheinlich eher eine risikoreiche Periode voller wirtschaftlicher und sozialer Turbulenzen als eine Phase nachhaltiger Entwicklung; der Aufwärtstrend könnte sich ins Gegenteil verkehren.

Außerdem werden die Lage auf dem Rohstoffmarkt und die Veränderungen der Währungspolitik durch die großen Zentralbanken zu einem Wendepunkt in der wirtschaftlichen Entwicklung werden.

Entwicklungsländer und –regionen werden in den nächsten zehn oder 20 Jahren weiterhin polarisieren. China hat dabei eine besonders günstige Position für die Entwicklung seiner Wirtschaft inne. Dennoch hängt es von uns ab, ob es seinen wirtschaftlichen Aufschwung erhalten oder sich in der Zukunft sogar noch verbessern kann.

 

(Der Autor ist Kolumnist bei der Beijing Review und Forschungsrat im Professorsrang an der Chinesischen Akademie für Internationalen Handel und Wirtschaftliche Zusammenarbeit)