06-02-2013
Im Focus
Wie groß ist die Einkommenskluft wirklich?
von Lan Xinzhen

 

Chinas Gini-Koeffizient lässt Rufe nach einer Reform der Einkommensverteilung wach werden

 

 

 

"in Journalist rief mich wegen eines Kommentars zu den heute veröffentlichten Zahlen zur Makroökonomie an. Bin ich etwa so verrückt, dazu etwas auf Basis falscher Angaben zu sagen? Nicht einmal Märchen sind so abenteuerlich wie der Gini-Koeffizient."

Das schrieb Xu Xiaonian, bekannter chinesischer Ökonom und Professor an der China Europa International Business School in Shanghai am 18. Januar auf Weibo, der chinesischen Variante von Twitter. An diesem Tag hatte das Staatliche Statistikbüro (SSB) diverse Wirtschaftszahlen für das Jahr 2012 veröffentlicht.

Xu hat mehr als 5,5 Millionen Follower, viele davon aus Medienkreisen, so dass sein Beitrag schnell weitergleitet und verbreitet wurde. „Nicht einmal Märchen sind so abenteuerlich" wurde ein beliebter Satz, um über die Glaubwürdigkeit von Statistiken zu lästern.

Es ist das erste Mal seit dem Jahr 2000, dass das SSB Angaben zum Gini-Koeffizienten veröffentlicht hat. In den Jahren davor wurde er regelmäßig bekannt gegeben. Diese Praxis wurde später aufgegeben, weil der Gini-Koeffizient als ungeeignet für die chinesischen Verhältnisse galt.

Bei seiner Pressekonferenz am 18. Januar veröffentlichte das SSB zusätzlich rückwirkend Zahlen zu den Jahren 2011 bis einschließlich 2003. Auch auf zahlreiche Nachfragen hin wollte Ma Jiantang, Bevollmächtiger des SSB, keinen Grund für dieses Vorgehen nennen. Die Frage, ob die Angaben die Einkommensungleichheiten in China wahrheitsgetreu abbilden, steht seitdem im Zentrum vieler Diskussionen.

 

 

Regierungszahlen 

Nach Angaben des SSB erreichte der Gini-Koeffizient 2008 mit 0,491 seinen höchsten Wert in China, begann dann aber zu fallen. 2012 lag sein Wert bei 0,474.

Um den Gini-Koeffizienten zu berechnen, verfügte China in der Vergangenheit nur über Zahlen zum Pro-Kopf-Nettoeinkommen der Landbewohner sowie zu den verfügbaren Einkommen der Stadtbevölkerung. Es fehlten Informationen auf Grundlage vergleichbarer Indikatoren, so Ma.

In den vergangenen zwei Jahren hat das SSB daher seine Einkommensstatistik verbessert. Seit Dezember 2012 werden 400.000 Haushalte in der Stadt und auf dem Land nach einem neuen Muster zusammengefasst, das Einkünfte nach einheitlichen und vergleichbaren Kriterien erfasst. Folglich wurden die Zahlen zum Haushaltseinkommen für 2003 bis 2011 neu kalkuliert, um den chinesischen Gini-Koeffizienten zu berechnen.

Nach der globalen Finanzkrise von 2008 hätten lokale Regierungen auf unterschiedlichen Ebenen weitreichende Maßnahmen ergriffen, um die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern, so Ma. Das gilt als Hauptgrund für das Absinken des Gini-Koeffizienten.

Davon ausgehend, dass die Zahlen zu Streit führen würden, hob Ma hervor, dass sich die Zahlen von Weltbank und SSB deckten, letztere seien sogar noch etwas höher. Der Gini-Koeffizient für die Jahre 2003 bis 2012 sei nach neuen Standards, aber auf Basis alter Statistiken berechnet worden, um eine spätere Überprüfung zu erleichtern, ergänzte er.

 

Streitauslöser

 

Schöne neue Welt: Ein Wanderarbeiter läuft an einem Werbeplakat für Wohnungen in Shaoyang (Provinz Hunan) vorbei. Die Einkommensunterschiede in China sind weiterhin enorm.

 

Neben Xu haben noch andere renommierte Ökonomen und Forschungsinstitute die Zahlen des SSB in Frage gestellt. Der Gini-Koeffizient könne die tatsächlichen riesigen Einkommensunterschiede in China nicht vollständig abbilden, argumentieren sie.

Nach einem Bericht des China Household Finance Survey and Research Center, das zur Southwestern University of Finance and Economics (SWUFE) in Chengdu (Provinz Sichuan) gehört, lag der Gini-Koeffizient basierend auf Chinas Haushaltseinkommen im Jahr 2010 bei 0,61. Das steht in scharfem Widerspruch zur Zahl des NBS (0,481).

Gegenwärtig hält sich China eher an die Zahlen der SWUFE. Nach den Zahlen des SSB lag das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen in der Stadt 2012 bei 24.565 Yuan (3025 Euro), das 3,1-fache des Pro-Kopf-Netto-Einkommens auf dem Land (975 Yuan). Die reichsten 20 Prozent der Stadtbewohner verfügten über ein Pro-Kopf-Einkommen von 51.456 Yuan (6336 Euro), die ärmsten 20 Prozent nur über 10.354 (1275 Euro)Yuan.

Warum sind die Zahlen der SWUFE so viel höher als die des SSB? Erhebungen von nichtstaatlichen Organisationen könnten eine wichtige und wertvolle Ergänzung für Regierungsinformationen sein, meint Ma, sofern sie auf wissenschaftlich fundierten Statistiken und Erhebungsmethoden, einer ausreichenden Zahl an Stichproben und einer besonnenen Haltung bei der Veröffentlichung von Ergebnissen beruhten.

Die städtischen Einkommen seien schneller gestiegen als das BIP, der Verdienstanstieg in der Landbevölkerung habe 2012 aber noch mehr Tempo vorgelegt, ergänzt Ma. Diese Entwicklungen hätten zum Abfall des Gini-Koeffizienten geführt.  

Trotzdem gibt es öffentliche Unterstützung für die SSB-Version des Gini-Koeffizienten. „Das SSB erklärt, dass sich die Einkommenskluft in den letzten Jahren verringert hat und der Gini-Koeffizient sinkt. Warum behaupten manche, dass sei nicht wahr? An alle, die eine Haushaltshilfe angestellt haben: Wächst euer Gehalt oder das eures Personals schneller? Die meisten Geringverdiener bekommen höhere Gehälter, aber welches große Unternehmen war seit der Finanzkrise stark genug, um seine Gewinne entscheidend zu erhöhen? Die Meldung vom sinkenden Gini-Koeffizienten scheint manche Leute nicht glücklich zu machen, aber ist es für das Land nicht das Beste?", fragte sich Hu Xijin, Chefherausgeber der Global Times nach der Lektüre von Xus Posting bei Weibo.

In jüngster Vergangenheit seien die Einkommen auf dem Land stärker als in der Stadt gestiegen, die Einkommenslücke dadurch geschrumpft, damit seien gute Bedingungen für ein Sinken des Gini-Koeffizienten entstanden. Unter diesem Blickwinkel könnten die SSB-Zahlen stimmen, meint auch Yu Bin, Leiter des Bereichs Makroökonomische Forschung am Entwicklungszentrum des Staatsrats. 

Seit 2009 hat die Zentralregierung die Hilfen für niedrige Einkommensgruppen in der Stadt und für Bauern aufgestockt, sie hat Mindestlöhne, Renten und den Einkommensteuerfreibetrag erhöht, Agrarsteuern aufgehoben, die Ausgaben für ländliche Bildung erhöht und die Gesundheitsfürsorge verbessert. Das Einkommen der Bauern steigerte sich in drei aufeinanderfolgenden Jahren stärker als das der Stadtbevölkerung.

Die Verdienste der städtischen Mittelklasse  sind jedoch nur leicht gestiegen. Das Einkommen dieser Gruppe hängt neben den Löhnen von den Investitionen in den Aktien- und Immobilienmarkt ab. Eine anhaltende Börsenbaisse und die Kontrolle der Immobilien durch die Regierung haben die meisten Investitionen der Mittelkasse aufgebraucht.

Die Berechnung des Gini-Koeffizienten sei eine sehr komplizierte Angelegenheit, erklärt Liu Huan, Professor an der Zentralen Hochschule für Finanzen und Wirtschaft in Beijing. Wegen der riesigen Bevölkerung und der immensen Zahl an Haushalten sei es schwierig, durch Zählungen an eine genaue Statistik zur Einkommensverteilung zu gelangen. Daher nutzen die meisten Länder Erhebungsmethoden, die eine breite Abdeckung und einen hohen Grad an Repräsentativität sicherstellen. Das aber erfordert einen hohen Arbeits- und Materialeinsatz sowie eine gute Kooperation und ist insgesamt ein schwieriger Prozess. Selbst internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen und die Weltbank verfügen nicht über ausreichende Kanäle und Kapazitäten für eine unabhängige Kalkulation des chinesischen Gini-Koeffizienten. Der China Household Finance Survey der SWUFE untersuchte angeblich 8438 Stichproben aus 80 Kreisen in 25 Provinzen. Eine solche Erhebung durchzuführen, sei schwierig und reiche doch nicht aus, um den Gini-Koeffizienten für ein Land mit einer Bevölkerung von 1,3 Milliarden Menschen darzustellen.

Die Genauigkeit der Berechnungen sowohl von nichtstaatlichen als auch staatlichen Institutionen müsse noch weiter überprüft werden, möglicherweise, indem man sich verstärkt auf die Berechnungsmethoden konzentriert, meint Liu.