25-10-2012
Im Focus
Mo Yan: Chinas erster Literaturnobelpreisträger
von Tang Yuankai

Prägende Kindheit

Erstmals wurden Medien und Kritiker im Jahr 1985 auf Mo Yan und sein Schaffen aufmerksam. Damals veröffentlichte Mo seine Novelle „Der kristallene Rettich".

Hunger ist ein Motiv, dass Mo Yan in seinen Werken nicht loslässt, es ist sogar eine der Quellen und in gewissem Sinne die Antriebskraft seines literarischen Schaffens. Schon als Kind fasste Mo den Entschluss, Schriftsteller zu werden. „Weil mir damals ein Student aus dem Nachbardorf, der zur Umerziehung aufs Land geschickt worden war, sagte, dass man als Schriftsteller jeden Tag drei mal Teigtaschen gefüllt mit fettem Schweinfleisch und Chinakohlen essen könne", erinnert sich Mo.

Mo Yan stammt aus einer einfachen Bauerfamilie. Er kam Mitte der 1950er Jahre in Gaomi, Provinz Shandong, zur Welt. Zwischen 1959 und 1961 erlebte die Region eine der größten Hungernöte ihrer Geschichte. Der Hunger veränderte alles. Jedes Kind in seinem Dorf glich einem hungrigen Hund, der den ganzen Tag auf der Suche nach Nahrung durch die Gegend streifte, erinnert sich Mo. Aus heutiger Sicht Ungenießbares wie Blätter, Baumrinde, Zikaden, Heuschrecken, sogar Erde und Kohlen, galten Mo Yan und seinen Freunden damals als wahre „Delikatessen".

„ ,Das rote Kornfeld' handelt meiner Meinung nach von Geschichte und Liebe, während ,Die Schnapsstadt' mein Bedauern über den moralischen Sittenverfall und meinen Hass gegenüber der Korruption spiegelt. Obwohl die zwei Romane ganz unterschiedlich sind, sind sie tief in ihrer Seele verbunden: Was ich formuliere, ist der Wunsch eines hungrigen Kindes, das immer Angst hat, nicht satt zu werden", erklärt Mo Yan im Exklusiv-Interview mit der Beijing Rundschau. „Als ich Schriftsteller wurde, habe ich begonnen, mich an das Gefühl der Einsamkeit aus meiner Kindheit zurück zu erinnern, es war, wie wenn ein Mann, den man an eine Tafel mit den köstlichsten Delikatessen setzt, sich an die Zeit des Hungers zurückerinnert."

In vielen Romanen spiegelt sich die Kindheit des Schriftstellers wider und Mos reale Heimat Gaomi dient ihm zweifellos auch als literarische Heimat, in der sich die meisten seiner Geschichten abspielen. Dabei gelangte Gaomi schon viel früher zu einer gewissen Berühmtheit. Das Dorf besitzt eine mehr als 2200 jährige Geschichte und hat vor Mo schon einige Berühmtheiten hervorgebracht. Traditioneller Scherensschnitt, Lehmbildhauerei und die Puhui-Frühlingsfestbilder, die in die Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen wurden, gelten als die drei Schätze der lokalen Volkskunst. Noch heute kehrt Mo stets in seine Heimat zurück, um zu schreiben. Alle Themen seiner Werke stammen aus seinem Leben in Gaomi.

Während der "Kulturrevolution" (1966-1976) musste Mo Yan die Schule abbrechen und arbeitete mehrere Jahre auf dem Land. Fast den ganzen Tag verbrachte er draußen auf der Weide. „Ich verstehe bis heute Rinder besser als Menschen", sagt Mo. „Ich kenne ihre Launen, ihre Gefühlausdrücke, weiß sogar, woran sie denken, während sie mir gegenüber völlig gleichgültig ganz ruhig ihr Grass fressen und ich mit dem Rücken im Weideland liege und im Himmel den Bewegungen der Wolken zusehe..."

Mo begann immer öfter, Selbstgespräche zu führen und dabei leise vor sich hin zu sprechen. „Damals war ich tatsächlich außerordentlich talentiert, literarisch hochbegabt und von großer Eloquenz", sagt der heutige Nobelpreisträger über sich selbst. „Nicht selten kam es vor, dass ich in Reimen sprach."

Eines Tages sah ihn seine Mutter überrascht, wie er vor einem Baum so vor sich hin murmelte. Zuhause sprach sie Mos Vater darauf an und fragte: „Ist unser Kind krank?" Später, als Mo Yan etwas älter war, arbeitete er für die Produktionsbrigade. Dass er gerne sprach, galt dabei eher als Unzulänglichkeit und brachte Mos Familie viel Ärger. „Eines Tages kam meine Mutter völlig verbittert zu mir und sagte: ‚Kannst du nicht einfach aufhören, zu sprechen?' Von ihrem Gefühlausbruch war ich total bewegt und schwor, nicht mehr vor Publikum zu reden. Aber schon bei der nächsten Gelegenheit, als ich mit anderen zusammentraf und einmal den Mund aufgetan hatte, konnte ich förmlich nicht mehr aufhören zu reden. Im Nachhinein hatte ich ein richtig schlechtes Gewissen, dass ich meine Mutter wieder enttäuscht hatte", erzählt Mo. Als Mo mit dem Schreiben begann, ersann er deshalb den Künstlernamen „Mo Yan", was auf Chinesisch etwa „ohne Worte" oder „nicht sprechen" bedeutet.

 

Nicht mehr „Ohne Worte"

„Schreiben ist eine andere Art, zu sprechen. Der Grund, dass ich mich für das Schreiben entschieden habe, ist, dass ich über meine Werke mit anderen kommunizieren und mit ihnen meine Geschichten und Ideen teilen will. Im Prozess des Schreibens lerne ich auch mich selbst und die Menschen immer besser kennen", so der Schriftsteller.

Mo Yan baute sich seine eigene kleine literarische Welt auf und ging dabei stets mutig vor. Er wagt es, die grausame Realität in China zu Papier zu bringen, was bei nicht wenigen Leuten zu Verstimmungen führte. Im Alltag allerdings ist Mo stets auf Harmonie bedacht. Seine Tochter, auch Schriftstellerin, wohnt in Beijing in der Nähe des Internationalen Flughafens. „Jedes Mal, wenn ich früher am Flughafen ein Taxi nehmen wollte, um zu ihr zu fahren, wagte ich nicht, dem Taxifahrer das eigentliche Fahrtziel mitzuteilen. Ich ließ ihn normalerweise zuerst ins Stadtzentrum fahren, obwohl meine Tochter ja in der Nähe des Flughafens wohnt. Ich wollte den Fahrer nicht vergrämen, denn die Taxifahrer müssen lange Zeit am Flughafen in der Schlange warten, bis sie an der Reihe sind. Wenn ein Fahrer dann nur eine kurze Strecke fahren darf, wird ihn das sicher ärgern. Dann fühle ich mich während der gesamten Fahrt äußerst unwohl."

Mittlerweile hat Mo eine Lösung für das Problem gefunden: Wenn er direkt zu seiner Tochter fährt, bereitet er für den Taxifahrer stets eine Schachtel Zigaretten vor. „Dann freuen sich die Fahrer natürlich. Die Zigaretten, die ich kaufe, sind mehr als 60 Yuan (rund 7,30 Euro) wert. So wird der Fahrer für die kurze Strecke entschädigt und behandelt mich äußerst freundlich und zuvorkommend."

„Je feiger und ängstlicher jemand im Alltag ist, desto mutiger ist er vielleicht in seinen Romanen", meint der Schriftsteller. In der Literatur könne man eben die Sachen tun, die man im Alltag nicht wagt oder verwirklicht. Der einzig denkbare Weg für einen guten Schriftsteller sei es, seinen Körper und seine Seele völlig in seine literarischen Werk zu stecken, so Mo.

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