23-06-2012
Im Focus
Europa am Wendepunkt
von Jiang Shixue

Die Euro-Zone steht am Abgrund. Ein Austritt Griechenlands scheint wahrscheinlicher denn je. In der Stunde der Not reicht China die Hand – auch aus eigenem Interesse.

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Griechenland, das erste Opfer der europäischen Schuldenfalle, steht zurzeit vor der entscheidenden und schmerzvollen Wahl, ob es in der Euro-Zone bleiben möchte. Zurzeit hat das Land gleich mit drei Krisen auf einmal zu kämpfen: tiefe Staatsverschuldung, soziale Probleme und politische Unsicherheit.

Es gibt bislang keine Vorschriften, die regeln, wie ein Mitgliedsstaat wieder aus der Euro-Zone austreten kann, und auch andere Länder, wie etwa Deutschland, könnten Griechenland wohl kaum aus der Euro-Zone verstoßen. Dass die Griechen jedoch aus dem Euro aussteigen werden, scheint heute realistischer als noch vor zwei Jahren.

Die in den USA sitzende Citibank schätzt mit einer Wahrscheinlichkeit von 75 Prozent, dass Griechenland aus der Euro-Zone austritt. Das Zentrum für Wirtschaft und Handel in Großbritannien hält es für wahrscheinlich, dass mindestens ein Mitgliedsstaat – am ehesten Griechenland – die Euro-Zone bis Ende 2012 verlassen wird.

 

Negative Effekte

Ohne Zweifel würde ein Austritt Griechenlands ernsthafte negative Folgen nach sich ziehen. Die für das Land weitreichendste ist wohl, dass die griechische Wirtschaft vollständig in sich zusammenfallen würde. Sparmaßnahmen der griechischen Regierung haben schon jetzt das Wirtschaftswachstum des Landes gedämpft. Ohne Unterstützung von außen kann das Land nicht mehr funktionieren. Sobald es zu einem Austritt Griechenlands kommt, wird das Land die ausländische Hilfe verlieren und werden große Kapitalsummen aus dem Mittelmeerstaat zurückgezogen.

Der Zusammenbruch des Finanzsektors, der Lebensader der Volkswirtschaft, würde zu einer noch schwerwiegenderen Krise Griechenlands führen. Die Bank BNP Paribas mit Sitz in Paris schätzt, dass Griechenlands Austritt in einen Verlust von 20 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und einer Inflation von mehr als 40 Prozent münden würde. Die Schweizer Großbank UBS sagt durchschnittliche Einbußen von 9 500 bis 11 000 Euro für jeden Griechen voraus.

Auch die Rückkehr zur alten griechischen Währung wäre keine einfache Option. Das ganze Land wird die Preisschilder für sämtliche Waren ändern müssen, ganz abgesehen von den Kosten, die mit dem Drucken neuer Banknoten einhergehen. Auch der Austritt aus der Euro-Zone kann Griechenland im Grunde nicht aus der Misere der Schuldenkrise retten. Griechenland exportiert nur eine geringe Bandbreite von Produkten und selbst diese sind häufig auf dem globalen Markt nicht wettbewerbsfähig. Die Exporte werden also auch mit einer abgewerteten Drachme nicht steigen.

Die griechischen Gläubiger werden große Verluste hinnehmen müssen, solange die Euro-Zone existiert. Auch wenn Maßnahmen, wie etwa ein massiver Schuldenschnitt durch andere europäische Staaten die Schuldenlast Griechenlands ein wenig erleichterte, europäische Banken und andere Investoren tragen immer noch 55 Milliarden Euro der chinesischen Staatsschulden. Ein griechischer Austritt würde zudem bedeuten, dass der Staat seine Schulden nicht rechtzeitig zurückzahlen könnte. Auch andere fällige Zahlungen in immenser Höhe könnten sich verzögern, wie etwa die 54 Milliarden Euro, die sich griechische Unternehmen und Privatleute bei ausländischen Banken geliehen haben, oder die 100 Milliarden Euro, die sich die griechische Zentralbank von anderen europäischen Banken geliehen hat. Bislang ist zudem unklar, ob der Internationale Währungsfonds (IWF) seine 22-Milliarden-Euro-Hilfe für Griechenland jemals wiedersehen wird.

Ein griechischer Austritt würde überdies den Ruf des Euro zerstören und Licht auf die eklatanten Mängel des Euro-Systems werfen. Die Folgen des neuen Misstrauens gegenüber dem Euro könnten dann einen Domino-Effekt auslösen, der auch Irland, Portugal, Spanien und Italien mit in den Abgrund zieht.

In der Folge wird auch der Prozess der europäischen Integration unterbrochen. Der Euro ist ein notwendiger Schritt auf dem Weg zur europäischen Integration. Viele andere europäische Länder wollten der Währungsunion in Zukunft beitreten. Ein griechischer Austritt würde dieser Entwicklung einen herben Schlag versetzen.

Es gibt mehrere Gründe, warum die europäische Staatsschuldenkrise auch drei Jahre nach ihrem Ausbruch noch nicht gelöst ist. In Europa wurde eine Kettenreaktion in Gang gesetzt, in die immer mehr europäische Länder hineingezogen werden: nach Griechenland, Irland und Portugal inzwischen auch Spanien und Italien. Die EU scheiterte nach dem Ausbruch der Schuldenkrise daran, diese durch schnelle und effiziente Maßnahmen einzudämmen. Der IWF, die EU und die Europäische Zentralbank haben sich insgesamt zu sehr auf Sparmaßnahmen als Gegenmittel gegen die Krise konzentriert und so das wirtschaftliche Wachstum vernachlässigt. Internationale Ratingagenturen haben durch die Abstufung der Kreditwürdigkeit der ohnehin von Schulden geplagten Ländern Ängste angeheizt – Schritte, die verhinderten, dass die Märkte wieder Vertrauen fassten. Nicht zuletzt konnten auch die Regierungen der hochverschuldeten Staaten ihre Bevölkerungen nicht von den Maßnahmen gegen die Krise überzeugen.

Die Schuldenkrise hat nicht nur die ökonomische Entwicklung und die soziale Stabilität Europas schwer getroffen, sie verhindert auch eine Belebung der Weltwirtschaft. Der IWF wies im April in seinem letzten Weltkonjunktur-Ausblick darauf hin, dass aufgrund der anhaltenden Euro-Schuldenkrise die Chancen für eine weltweite Erholung der Wirtschaftslage schlecht stehen. Außerdem wirkt sich das Übergreifen der Krise auf Länder aus, die enge wirtschaftliche Bande mit Europa verbinden, dazu gehört auch China.

 

Hilfe aus China

Kurz nach dem Ausbruch der europäischen Schuldenkrise kam eine hitzige Debatte darüber auf, ob China Europa retten könnte und sollte. Einige vertraten die Auffassung, dass China die Möglichkeiten zu einer Rettung Europas gegeben seien – immerhin ist China inzwischen die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt und verfügt über immense Devisenreserven. Außerdem besteht zwischen China und Europa eine umfassende strategische Partnerschaft. China sei daher dazu verpflichtet, Europa zu Hilfe zu eilen. Andere Meinungen stützten sich jedoch auf das Argument, dass China immer noch ein Entwicklungsland sei, ein Land, in dem noch immer über 100 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze lebten. China habe daher weder die Möglichkeit und schon gar nicht die Pflicht, der EU Hilfe anzubieten, deren Bruttoinlandsprodukt pro Kopf das chinesische um ein Mehrfaches übersteigt.

Im Grunde haben die chinesischen führenden Persönlichkeiten eine klare und resolute Haltung gegenüber der europäischen Schuldenkrise. Der chinesische Standpunkt kam bei einem Treffen am Rande des 14. China-EU Gipfels am 15. Februar in Beijing zum Ausdruck, an dem neben dem chinesischen Präsidenten Hu Jintao auch EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso und der Präsident des europäischen Rates Herman van Rompuy teilnahmen.

„China beobachtet und unterstützt die Maßnahmen, die von der EU, dem IWF und der europäischen Zentralbank unternommen werden, um dem europäischen Schuldenproblem wirksam zu begegnen", sagte Hu bei diesem Anlass und fügte hinzu, dass China auch künftig seine Kommunikation und Koordination mit der EU über politische Maßnahmen verstärken werde. Zudem wolle man die Kooperation auf den Gebieten Wirtschaft, Handel, Investitionen und Finanzen ausbauen und bei der internationalen Gemeinschaft für eine Unterstützung Europas und der Euro-Zone eintreten. 

„Ich glaube, dass Europa über die Möglichkeiten und die nötige Vernunft verfügt, um die gegenwärtigen Schwierigkeiten zu überwinden und neues Wachstum anzustoßen", so Hu.

Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte der chinesische Ministerpräsident Wen Jiabao mit Hinblick auf die Schuldenkrise in Europa: „Die entsprechenden chinesischen Ministerien analysieren derzeit die Lage und werden Pläne vorlegen, auf welche Weise man den IWF unterstützen kann und eine aktivere Rolle einnehmen kann, um zu einer Lösung der Schuldenfrage in Europa im Rahmen des EFSF, des EFS und anderer Kanäle beizutragen. 

Wen machte jedoch auch deutlich, dass Europas eigene Bemühungen entscheidend sind. Hochverschuldete Staaten müssten entschlossen handeln und eine den Landesbedingungen angemessene Fiskalpolitik umsetzen. Zusätzlich zu den kurzfristigen Rettungsmaßnahmen sollte die EU als Ganzes institutionelle und strukturelle Reformen einleiten, sowohl bei ihrer Fiskal- und Finanzpolitik als auch auf anderen Gebieten. Der  internationalen Gemeinschaft müssten diesbezüglich einheitliche und klare Lösungen vorgelegt werden.

Auf seiner Europareise erklärte der chinesische Vize-Ministerpräsident Li Keqiang bei einem Treffen am 3. Mai mit Kommissionspräsident Barroso, ein stabiler Euro und eine stabile europäische Wirtschaft begünstigten auch ein kontinuierliches globales Wirtschaftswachstum, von dem wiederum auch China profitiere. „China unterstützt die Integration Europas und wünscht sich ein einiges, starkes und wohlhabendes Europa", so Li.

Ein Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone würde natürlich auch Auswirkungen auf China haben. Sollte es soweit kommen, wird der Wert von griechischen Anleihen, die auch von China gehalten werden, drastisch sinken. Chinas Investitionen in Griechenland stehen dann vor einer ernsten Herausforderung. Da der griechische Austritt die EU bei der Bekämpfung ihrer Schuldenkrise zusätzlich belastet, würde sich auch das Umfeld für Chinas wirtschaftliche Entwicklung insgesamt verschlechtern.

Sollte die Krise weiter andauern, würde die EU unfähig sein, ihre Importe zu erhöhen, und der Yuan gegenüber dem Euro stark an Wert gewinnen. Dies und auch die Tatsache, dass die Probleme der EU die Weltwirtschaft weiter schwächen, wirken sich nachteilig auf China aus.

Trotzdem birgt die Schuldenkrise für China und Europa auch die Chance, ihre Beziehungen zu vertiefen. China kann der EU bei der Bewältigung der Krise mit zahlreichen Mitteln zu Hilfe kommen, wie etwa einem verstärkten Import europäischer Waren, mehr Investitionen, dem Kauf von Staatsanleihen und der Stützung des IWF mit neuem Kapital. Sicherlich sollte die EU als Konsequenz von ihrer Rhetorik einer „Bedrohung durch China" ablassen, den Handelprotektionismus zurücknehmen, die Einfuhrbeschränkungen gegenüber chinesischen Waren aufgeben und den Technologietransfer nach China verstärken.

Die Mehrheit der Menschen in China glaubt, dass die EU, die größte Volkswirtschaft der Welt, ihre Stärke zurückgewinnt, sobald sie die Schuldenkrise überwunden haben wird. Darüber hinaus werden die andauernden Bemühungen der EU, die auf eine Verbesserung der Steuerung der Wirtschaft und eine Umsetzung des Fiskalpaktes gerichtet sind, den Integrationsprozess begünstigen. In diesem Sinne steht der EU eine vielversprechend Zukunft bevor. Und gleiches gilt auch für die Beziehungen zwischen China und der EU – trotz aller gegenwärtigen Probleme.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jiang Shixue

Der Autor ist stellvertretender Leiter des Instituts für Europastudien an der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften.