Im Interview spricht Michael Kropp von Misereor China über die Herausforderungen einer christlichen Entwicklungshilfeorganisation in China, die Spendenbereitschaft der Chinesen und die Notwendigkeit, die Entwicklungshilfe mittelfristig lokalen Organisationen zu überlassen.
Misereor-Verbindungsbüroleiter Michael Kropp: „Ich sehe einen Teil der chinesischen Gesellschaft an ihrem Limit!" (Foto: Matthias Mersch)
Misereor-Mitarbeiter in Beijing: „Wir halten den Ball flach"
Michael Kropp leitet seit 2011 das Misereor-Verbindungsbüro Beijing, das 2000 eröffnet wurde. Zuvor war er dreizehn Jahre lang in der Zentrale von Misereor in Aachen als Regionalreferent für den Bereich China, Korea und die Mongolei verantwortlich. Der studierte Sinologe kennt China seit den frühen 80er Jahren, als er im Rahmen seines Auslandsaufenthalts rund zwei Jahre lang in Nanjing lebte.
Die katholische Hilfsorganisation Misereor engagiert sich seit 1983 in der Volksrepublik China. Zunächst hauptsächlich durch das internationale Büro der Caritas Hongkong, finanziert Misereor heute direkt chinesischen Partnerorganisationen die Durchführung von Projekten, deren Bandbreite von Trinkwasserleitungen in Nordchina und dem pestizidfreien Anbau landwirtschaftlicher Produkte in Südwestchina über die Unterstützung von Unfallopfern unter Wanderabeiterinnen und Wanderarbeitern bis hin zur Lernförderung autistischer Kinder und dem Englischunterricht für tibetische Jugendliche reicht. In ganz China werden gegenwärtig rund 70 Projekte mit einem Gesamtetat von durchschnittlich 2,5 Millionen Euro pro Jahr gefördert.
Herr Kropp, die Bundesregierung hat seit 2009 ihre bilaterale Entwicklungszusammenarbeit mit der Volksrepublik China eingestellt. Die Volksrepublik verfügt über die zweitgrößte Volkswirtschaft der Erde. Sie exportiert mehr Waren ins Ausland als irgendein anderes Land. Warum ist eine Entwicklungsorganisation wie Misereor überhaupt noch hier?
Man darf nicht übersehen, dass sich das Leitbild der Entwicklungszusammenarbeit im Laufe der Jahre stark gewandelt hat. Früher hat Misereor in China tatsächlich noch stark auf den Ausbau der Infrastruktur gesetzt. Da wurden Schulen, Kindergärten und Krankenhäuser gebaut. Das ist inzwischen aber nicht mehr unser Fokus. Heute geht es uns vielmehr darum, darauf aufmerksam zu machen, dass es in der Gesellschaft Menschen gibt, die sich nicht alleine helfen können. Neben der Förderung von konkreten Armutsminderungsprojekten geht es uns auch darum, Denkprozesse anzustoßen. Dabei sind Rechtsfragen und die Umweltproblematik wichtige Themen unserer Arbeit. So zum Beispiel beim Umgang mit Aidspatienten und Menschen mit Behinderung oder auch in einem größeren gesellschaftlichen Kontext der Versuch, angesichts wachsender Müllberge Einfluss auf das Konsumverhalten der Menschen zu nehmen.
Insbesondere in China müssen wir uns aber auch verstärkt mit der Frage auseinandersetzen, wie wir wieder ausfädeln können. Bei Projekten, die schon über Jahre hinweg finanziert werden, muss man sich die Frage stellen: Wo bleibt die Hilfe zur Selbsthilfe? Ein wesentlicher Teil unserer Arbeit ist daher, lokales Fundraising zu fördern, das auch durch unsere Partnerorganisationen vor Ort betrieben wird.
Trotzdem fließen heute auch Gelder in Kooperationsprojekte mit der Regierung und staatlichen Universitäten. Unterstützt Misereor mit seinen Finanzmitteln den chinesischen Staat?
Wir haben keine Scheu mit dem Staat zusammenzuarbeiten. Man muss bedenken, dass wir so auch Einfluss bekommen und erreichen, dass wir bei den Inhalten der Projekte mitreden können.
Um ein sehr erfolgreiches Beispiel zu nennen: Misereor unterstützt seit Jahren ein Master-Programm für Sozialarbeiter zwischen der Abteilung für Angewandte Sozialwissenschaften der Polytechnischen Universität Hongkong und der Soziologie-Abteilung der Peking Universität. Inzwischen sind einige Absolventen des Programms als Berater von Ministerien tätig. Man sieht also, dass dieses Programm bis in hohe politische Entscheidungsgremien etwas bewirken kann.
Zudem kommen sogar schon staatliche Stellen wie das Innenministerium auf uns zu, um bei Naturkatastrophen im Bereich der sozialen Unterstützung von Betroffenen mit uns zusammenzuarbeiten. Das lehnen wir natürlich nicht ab. Misereor will ja nicht nur, dass die Probleme in der Gesellschaft diskutiert werden, sondern will sie auch dahin tragen, wo Entscheidungen gefällt werden – vielleicht auch künftige.
Misereor versteht sich als Nichtregierungsorganisation (NGO). Inwieweit kann man in China überhaupt von Nichtregierungsorganisationen sprechen?
Noch gibt es in China keine explizite NGO-Gesetzgebung, aber Stiftungen wie auch Non-Profit-Unternehmen können gegründet werden. Deswegen gründen sich die meisten kleinen sogenannten „NGOs" unter der Industrie- und Handelskammer als Unternehmen, die gemeinnützige Zwecke verfolgen. Unabhängig vom Rechtsstatus, kann sich Misereor aber mit den Zielen von vielen dieser „Unternehmen" identifizieren. Und von diesen Organisationen geht dann auch wieder ein Einfluss auf die halb- oder ganzstaatlichen Organisationen aus. Ihnen kommt also das Verdienst zu, dass Probleme über den lokalen Kontext hinaus in die Gesellschaft hineingetragen werden. Das ist dann wiederum im Interesse der Entwicklung einer Zivilgesellschaft. Deshalb sucht Misereor die Kooperation mit Partnerorganisationen.
Inwieweit wird die Kooperation dadurch beeinflusst, dass es sich bei Misereor um eine kirchliche Einrichtung handelt?
Als ich vor vielen Jahren bei Misereor anfing, habe ich in China viele Organisationen und staatliche Einrichtungen besucht und dabei Misereor vorgestellt. Ich habe natürlich nie einen Hehl daraus gemacht, dass es sich um eine Einrichtung handelt, die von der katholischen Bischofskonferenz gegründet wurde, also einen kirchlichen Hintergrund hat. Ich habe dann gefragt, ob es damit ein Problem gibt. Das haben alle verneint, unter der Bedingung, dass wir keiner missionarischen Tätigkeit nachgehen. Das tun wir natürlich nicht und wir bemühen uns auch immer, das zu deklarieren. Häufig herrschen falsche Vorstellungen über unseren christlichen Hintergrund. Wir werden auch schon einmal gefragt, ob wir Priester seien, was wir aber mit gutem Gewissen verneinen können! Solche Erlebnisse führen jedoch dazu, dass wir nicht ungefragt den katholischen Hintergrund Misereors hervorheben.
Gilt die Vorsicht auch insgesamt für die Öffentlichkeitsarbeit Misereors in China?
Wir halten auch insgesamt in China den Ball flach. Für uns ist es wichtig, die Arbeit der chinesischen Partner in den Vordergrund zu rücken und nicht die Arbeit von Misereor. Ich halte es für klug, erst einmal vorsichtig zu agieren. In der so entstandenen Ruhe lässt sich dann wirkungsvoll arbeiten. Es gibt genügend Organisationen, die in China scheel angesehen werden, auf einer grauen oder gar schwarzen Liste stehen. Ich sehe Misereor lieber auf der weißen Liste.
Birgt diese Zurückhaltung nicht die Gefahr, dass Misereor zwar Geld gibt, aber in der chinesischen Öffentlichkeit gar nicht als Unterstützer von sozialen Projekten wahrgenommen wird?
Früher waren wir der Ansicht, dass es nicht unbedingt sein muss, dass bei unseren Partnerprojekten Täfelchen aufgestellt werden, auf denen die Unterstützung Misereors kundgetan wird. Auch weil es für die Partnerorganisationen nicht immer sehr opportun war, den Empfang ausländischer Gelder hinauszuposaunen. Mittlerweile denke ich aber, dass es durchaus sinnvoll ist, dass wir in beschränktem Maße in China an die Öffentlichkeit gehen und darüber berichten, was wir tun. In Deutschland ist Misereor insgesamt natürlich wesentlich präsenter – allerdings nicht mit seiner China. Davon verspricht man sich keine Werbewirkung, denn das Image der Volksrepublik ist in Deutschland nicht gut.
Was aber vielleicht auch an der Werbung der Hilfsorganisationen selbst liegt. Auf den Plakaten sieht man stets nur Kinder aus Afrika. Die Probleme in der chinesischen Gesellschaft werden gar nicht erst thematisiert. Verfestigt sich so nicht gerade das negative Bild der Entwicklungszusammenarbeit mit China?
Es stimmt, dass dieses im Wortsinne Schwarz-Weiß-Denken, das durch die Werbung vermittelt wird, häufig gar nicht die Realität widerspiegelt. Natürlich gibt es Armut, auch oder noch immer in China. Vielleicht braucht diese Gesellschaft sogar die Armen, um so zu funktionieren, wie sie funktioniert.
Aber es gibt inzwischen auch zahlreiche große chinesische Hilfsorganisationen.
Tatsächlich besteht bei einigen sogar das Bedürfnis, international aktiv zu werden. Ein Beispiel ist die China Foundation of Poverty Alleviation (CFPA), die über mehr als zwei Jahrzehnte Erfahrung im Bereich der Armutsminderung in China verfügt. Seit vier bis fünf Jahren versteht sich die Organisation aber zunehmend internationaler und richtet sich dabei auch und vor allem nach Afrika aus. Im Rahmen dessen wurde Misereor gebeten, bei einer möglichen Kooperation seine Erfahrung zur Verfügung zu stellen.
Auf der anderen Seite muss man aber auch sehen, dass es im „reichen" China vermehrt Wohlstandsprobleme gibt. Die Menschen leiden unter der Geschwindigkeit ihres eigenen Lebens und unter der Vorstellung, irgendetwas zu verpassen. Der Wohlstand wächst, aber das Leben ist anstrengender geworden in China. Da sehe ich die Gesellschaft an ihrem Limit.
Die Reichen sind im Moment also so mit sich selbst beschäftigt, dass es gar nicht mehr zur Solidarität mit den Armen kommt?
Ein Stück weit kann man das schon so sagen. Vereinzelt gibt es natürlich immer Solidarität. Aber keine Solidarität mit den Armen, wie wir sie im europäischen Raum unter dem Credo „Liebe deinen Nächsten" kennen. Das ist aber eher eine philosophische Frage und eine Frage der Tradition. Verantwortung für die Gesellschaft wird nur im Ausnahmefall übernommen, wie etwa beim Erdbeben in Wenchuan in der Provinz Sichuan im Jahr 2008. Da wurde von Privatpersonen sehr großzügig gespendet.
Generell entsteht Verantwortungsgefühl des Einzelnen hier aber eher im Rahmen von Netzwerken, klar strukturierten und begrenzten Beziehungsgeflechten. Ich bekämpfe die Armut, die mir innerhalb meines Netzwerkes begegnet. Dafür bekomme ich dann ein Täfelchen. Aber man bekämpft die Armut nicht einfach aufgrund eines Spendenaufrufs zu Gunsten von Empfängern, zu denen keine persönlichen Beziehungen bestehen, wie dies etwa in Deutschland der Regelfall ist.
Spendenskandale fördern nicht gerade die Geberlaune. Wenn zum Beispiel die angebliche Rote-Kreuz-Mitarbeiterin Guo Meimei in ihrer Freizeit einen Maserati fährt, fügt das der Glaubwürdigkeit von Hilfsorganisationen doch massiven Schaden zu.
Das ist richtig. Auch von der Verwendung der Spenden für das Erdbeben in Wenchuan sind viele Menschen enttäuscht. Von den mehr als zwei Milliarden Euro, die gespendet wurden, kam längst nicht alles bei den Opfern der Katastrophe an, weil das Geld durch zu viele Hände lief. Das hatte zur Folge, dass bei einigen Großorganisationen in China das Spendenaufkommen um bis zu 90 Prozent eingebrochen ist. Der chinesische Spender schaut heute viel kritischer darauf, wie sein Geld verwendet wird.
Für Misereor bietet das sogar Vorteile, denn wir arbeiten von vornherein nur mit Organisationen zusammen, die ein Mindestmaß an finanzieller Transparenz haben.
Vor allem profitieren von dieser Entwicklung aber die kleinen Organisationen, die nur wenig Verwaltungsaufwand haben und überschaubare Projekte betreuen.
Die kleine Organisation, die direkt vor der Haustür eines Unternehmers unter schwierigen Verhältnissen gute Arbeit leistet, bekommt jetzt eher dessen Unterstützung, weil er Wert und Wirkung der geleisteten Arbeit unmittelbar ablesen kann. Wir haben das konkret bei unseren Partnern beobachten können.
Das ist nur ein Beispiel, aber insgesamt lässt sich sagen, dass die Gelder nun direkter fließen. Gewinner sind die kleinen Projekte, in denen ehrliche, harte und transparente Arbeit vor Ort geleistet wird.
Das Interview führten Elias Schwenk und Matthias Mersch |