Immer mehr Montessorischulen und –kindergärten schießen in den Städten Chinas aus dem Boden. Was sie eint, ist der Glaube an die Philosophie der Gründerin. Doch um die richtige Umsetzung gibt es Streit.

Little Village Montessori School of Beijing Foto: Elias Schwenk

Schulmesse im Hotel Kempinski in Beijing am 25. März 2012 Foto: Elias Schwenk
Herr Wang (Name von der Redaktion geändert) ist kein aufdringlicher Mensch. Bei Präsentationen muss er nicht im Mittelpunkt stehen, er überlässt seinen Mitarbeitern die Bühne, hält sich fast scheu im Hintergrund. Mit seinen Restaurants hatte er zwar schon in jungen Jahren genügend Geld erwirtschaftet, um bis an sein Lebensende ruhig leben zu können, doch in letzter Zeit ließ ihn eine Sache nicht los: die Sorge um die richtige Erziehung für seine Tochter bereitete ihm schlaflose Nächte. Staatliche Kindergärten kamen nicht in Frage. Doch bei seinen Reisen rund um den Globus entdeckte Wang schließlich ein Erziehungssystem, das sein Interesse weckte. Und so fasste er kurzerhand den Entschluss, einen eigenen Kindergarten zu eröffnen: seinen eigenen Montessori-Kindergarten.
In der Folge holt Wang Erkundigungen ein, telefoniert mit Experten in Europa, lädt sie ein, an seiner Vision mitzuarbeiten. Unter ihnen ist auch Neige Cohendy. Um zwei Uhr nachts klingelt das Telefon in ihrer Wohnung in Paris. Am Apparat ist Wang: Ob sie Lust hätte, Aufbauarbeit in Beijing zu leisten? Cohendy sagt zu. Eine Woche später steht sie in den Räumlichkeiten in Beijing, die der Kindergarten beziehen soll, und präsentiert interessierten Eltern das Konzept. Die Dinge laufen schnell hier in China.
Die Unterrichtsräume, die den Eltern gezeigt werden, sind blankgeputzt, fast steril. Die Möbel und Materialien wurden eigens angefertigt. Wenn man den Kindergarten im dritten Stock eines Gebäudes im Stadtviertel Chaoyang betritt, kommt es einem vor, als befände man sich an der Rezeption eines Hotels. Hier wird die High-Tech-Version eines alternativen Erziehungskonzepts verwirklicht, das vor über hundert Jahren seinen Anfang nahm.
„Hilf mir, es selbst zu tun!"
Als eine der ersten promovierten Medizinerinnen überhaupt arbeitete die 26-jährige Maria Montessori in einem Krankenhaus für geistig behinderte Kinder. Montessori entwickelte erste Methoden und Unterrichtsmaterialien und bewies, dass sich die angebliche Geisteskrankheit der Kinder auf pädagogische Fehler zurückführen ließ.
Insbesondere die Unterrichtsmaterialien spielen im Montessori-System bis heute eine entscheidende Rolle. Mit ihnen lernen die Kinder spielend: Zählen mit kleinen Kugeln, Lesen durch Nachfahren der Buchstaben, aber auch Tischmanieren und sozialen Umgang beim gemeinsamen Essen. „Die Materialien sollen das Interesse der Kinder erwecken. Immerhin sollen sie eigenständig lernen, selbst Erfahrungen machen", erklärt Naz Abdullah, die bereits in England und Mosambik als Erzieherin tätig war und heute für Herrn Wang in Beijing arbeitet.
Sie bringt damit einen zentralen Punkt von Montessoris Theorie zum Ausdruck: Im Mittelpunkt der Erziehung steht das Kind, mit seinen Interessen, seinem Tagesrhythmus und seiner Lernweise. Einen Lehrer im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Die Erzieher geben keine Anweisungen, sie helfen lediglich, stehen den Kindern mit Rat zur Seite. Häufig treten sie sogar hinter den Mitschülern zurück, die aus verschiedenen Altersgruppen kommend sich gegenseitig unterstützen.
„Die Kinder müssen selber entscheiden, was sie machen wollen, dafür müssen sie aber auch alles bequem erreichen können", meint Naz Abdullah und deutet auf die kleinen Regale, auf denen die Materialien ordentlich aufgereiht sind.
„Hilf mir, es selbst zu tun", so brachte Maria Montessori die Beziehung zwischen Kind und Erzieher auf den Punkt. Dahinter steht ein vielschichtiges Menschenbild, eine Philosophie vom Kind als vollkommenen Individuum, das für sich losgelöst von Kritik und Störung jeglicher Art am besten lernen kann. Doch wie diese Philosophie genau umgesetzt werden soll, sorgt für Streit.
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