15-05-2012
Im Focus
Umgang mit der Einsamkeit
von Wang Hairong

Selbstmordtragödien werfen Licht auf die Misere von Chinas Frauen, die auf den Dörfern zurückbleiben, während ihre Ehemänner in den Städten arbeiten

 

Landarbeit: Zurückgelassene Frauen aus dem Dorf Shuitianba im Kreis Xuan'en in der zentralchinesischen Provinz Hubei auf dem Weg zum Setzen junger Teepflanzen.

 

ALlein und vielbeschäftigt: Hu Ergui aus einem Dorf im Kreis Xunyang in der Provinz Shaanxi in Chinas Nordwesten bringt am 1. September 2011 die Ernte ein. Ihr Ehemann und zwei erwachsene Kinder leben als Wanderarbeiter in den Städten

Der verzweifelte Schrei eines Dreizehnjährigen durchbrach am 2. April kurz vor Mitternacht die Stille im Dorf Dongfeng im Bezirk Lianping in Chinas regierungsunmittelbarer Stadt Chongqing. "Hilfe, Mutter sticht mit einem Messer auf uns ein!", schrie der Junge.

Ein verzweifeltes Pochen an der Tür riss Zhu Chuangong aus dem Schlaf. Er öffnete und erschrak, als er den Jungen erblickte, den hier alle Xiaoyou nannten: Kopf und Gesicht waren blutüberströmt. 

Xiaoyou erzählte ihm, dass er plötzlich im Schlaf einen heftigen Schmerz spürte. Er wachte auf und sah, wie seine Mutter mit einem Messer auf ihn und seinen kleinen Bruder einstach. Er konnte entkommen und lief so rasch er konnte, um Hilfe zu holen.

Zhu und weitere Dorfbewohner eilten zum Haus von Xiaoyou um seinen elfjährigen Bruder Xiaoyi zu retten. Doch als sie das Haus betraten, fanden sie weder Mutter noch Kind vor, überall auf dem Boden und in den Betten war Blut.  Eine halbe Stunde später fanden sie den schwerverletzten Xiaoyi in einem Graben liegend.

Die beiden Jungen wurden ins Krankenhaus gebracht. Dort erlag der ältere Bruder seinen schweren Verletzungen. Der jüngere überlebte mit etwa 80 Stichen am Kopf und zwanzig weiteren an den Gliedmaßen.

Vier Tage später barg man die Leiche der Mutter aus einem Fluss. Die 37 Jahre alte Zheng Xiuwei lebte mit ihren Söhnen im Dorf, während ihr Ehemann Zhu Jiawen (41) in der ostchinesischen Provinz Anhui arbeitete – 1200 Kilometer von Chongqing entfernt.

Zhengs Schwager Deng Qingshun hegte schon lange den Verdacht, dass Zheng geisteskrank war. Er berichtet, dass sie sehr wortkarg war, ausdruckslos ins Leere starrte oder grundlos Namen vor sich hin sagte.

Nachdem die Tragödie sich ereignet hatte, kehrte Zhu nach Hause zurück. Er sagte, seine Frau behandelte ihre Söhne für gewöhnlich gut und gab an, dass er ein gutes Verhältnis zu ihr hatte, obgleich sie introvertiert war und sich nicht gerne unter die Leute begab.

Zhu meinte, er habe seine Frau zum Arzt gebracht, dieser konnte aber keinerlei Anzeichen einer psychischen Störung feststellen.

Seine Frau habe ihn einige Tage vor dem Zwischenfall angerufen, um ihm zu sagen, dass sie an einer Frauenkrankheit litt. Sie bat ihn heimzukehren. "Ich habe ihr gesagt, sie soll allein ins Krankenhaus gehen und sich untersuchen lassen. Dass so etwas geschehen würde, hätte ich nie gedacht", so Zhu.

 

Überforderte Frauen

Zhengs Fall ist einer von zwei grauenhaften Mitnahmesuiziden, die unlängst China erschütterten.

Der zweite Fall ereignete sich am 27. März in der südwestlichen Provinz Sichuan und handelt von der 27 Jahre alten Mutter Tang Chengfang. Tang vergiftete ihre drei Kinder mit einem Pflanzenschutzmittel und versuchte anschließend durch Einnahme derselben Chemikalie Selbstmord zu begehen. Während Tang in ihrer Heimatstadt nach den Kindern sah, arbeitete ihr Ehemann in der Küstenprovinz Fujian. Die Mutter und ihre drei Kinder befinden sich nach wie vor im Krankenhaus.

Beide Mütter zählen zu den zurückgelassenen Frauen. Dieser Begriff steht für Frauen, die in ihrer ländlichen Heimatstadt bleiben, während ihre Ehemänner als Wanderarbeiter oft weit entfernt in den Städten des Ostens arbeiten. Die zwei tragischen Fälle lenkten die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Lebensumstände zurückgelassener Frauen.

Offiziellen Statistiken vom Mai 2011 zufolge gibt es in China mehr als 240 Millionen bäuerliche Wanderarbeiter.

Während unzählige Männer vom Land in den Städten arbeiten um dort ihren Lebensunterhalt zu verdienen, lasten die Aufgaben der Kindererziehung, Altenpflege, Feldarbeit und Hauswirtschaft auf ihren Ehefrauen in den Dörfern.

Zurückgelassene Frauen stehen einer Reihe von sozialen und psychischen Problemen gegenüber. Das Buch „Dancing Solo: Women Left Behind in Rural China" (2009) bildet manche der großen Probleme ab, mit denen sich zurückgelassene Frauen im Alltag konfrontiert sehen.

Das Buch wurde von Wu Huifang, einem Wissenschaftler am College of Humanities and Development an der China Agricultural University, und Ye Jingzhong, Professor ebendort, geschrieben. Für die Studie interviewten die beiden hunderte von zurückgelassenen Frauen in Anhui, Jiangxi, Hunan, Henan und Sichuan -- Provinzen, aus denen viele von Chinas Wanderarbeitern stammen.

Die Forscher stellten fest, dass 92,4 Prozent der befragten Frauen sowohl für die Hausarbeit als auch für die Landwirtschaft zuständig waren. 35,5 Prozent sorgten für zwei oder mehr Kinder. Über die Hälfte der Frauen berichtete, dass sie die Landwirtschaft nicht alleine führen könnten und daher auf die Hilfe anderer angewiesen wären.

Eine der Frauen, die Wu während einer Feldstudie in Sichuan traf, war 43 Jahre alt und seit über zwanzig Jahren verheiratet. Seit ihrer Hochzeit verbrachte ihr Ehemann die meiste Zeit auf Baustellen in den großen Städten des Landes. Zusätzlich zur Kindererziehung und der Pflege der älteren Familienmitglieder bewirtschaftete die Frau zwei große Treibhäuser mit Pilzen, züchtete Seidenraupen und baute auf zwei Feldern Raps und Reis an.

Alle diese Frauen litten an Einsamkeit. Die Ehemänner von 66,7 Prozent aller Befragten lebten die meiste Zeit des Jahres nicht zu Hause. Etwas mehr als die Hälfte der Ehemänner hatten ihre Heimatstädte vor über zehn Jahren verlassen und die meisten kamen nur einmal im Jahr besuchshalber nach Hause zurück.

Die zurückgelassenen Frauen sagten, dass sie während der arbeitsreichen Jahreszeiten in der Landwirtschaft von der Arbeitslast überfordert wären. Das Ergebnis; 69,8 Prozent der befragten Frauen berichten von innerer Unruhe, 50,9 Prozent leiden an Angstzuständen und 39 Prozent sind oft deprimiert.

Manche von den Frauen erzählten den Forschern, dass sie, wenn sie erschöpft oder deprimiert seien, ihren Frust oft an den Kindern ausließen, und diese körperlich oder verbal misshandelten.

Die Studie fand außerdem heraus, dass über 8,3 Prozent der zurückgelassenen Frauen durch Ehekrisen oder Scheidungen gegangen sind. Manche konnten die Einsamkeit nicht länger ertragen und verließen ihre Ehemänner, andere wurden von ihren Männern für andere Frauen in den Städten verlassen.

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