09-05-2012
Im Focus
Gefährliche Pillen
von Li Li

China wird erneut von einem Arzneimittelskandal erschüttert. Mit Chrom belastete Gelatine wurde zur Herstellung von Medikamentenkapseln benutzt. Chinas Verbraucher befürchten, dass mit Schadstoffen belastete Gelatine auch bei der Herstellung von Lebensmitteln zum Einsatz kam. Der Genuss verunreinigter Gelatine kann schwerwiegende Erkrankungen zur Folge haben.

Tödliche Pillen: Von der Polizei beschlagnahmte Medikamentenhüllen aus einer Fabrik in der Provinz Zhejiang

 

Tatort: Chemikaliendurchtränkte Lederreste in einer Fabrik, die gegen die Bestimmungen der Arzneimittelherstellung verstoßen hat.

Tausend Tipps kursieren in letzter Zeit im chinesischen Internet, die erklären, wie man Pillen einnimmt, ohne die Kapseln aus Hartgelatine mitzuessen. Will man ein Medikament zu sich nehmen, sollte man den Inhalt der Kapsel in ein Stück Brot, Gurke oder Banane geben und dann alles zusammen schlucken. Eine Post empfiehlt, Klebreisbällchen zu formen und den beliebten Snack nicht wie üblich mit einer süßen Füllung, sondern mit dem Inhalt der Kapsel zu füllen.

Diese neuartigen Wege der Medikamenteneinnahme sind mehr als eine bloße Modeerscheinung oder eine hippe Internetunterhaltung. Es handelt sich vielmehr um den Versuch der chinesischen Verbraucher, sich vor einer möglichen Vergiftung zu schützen, deren Quelle kürzlich durch Medienberichte aufgedeckt wurde.

Dreizehn weit verbreitete Medikamente wurden nachweislich in Kapseln verkauft, die aus Industriegelatine hergestellt wurden, berichtete Chinas Staatsfernsehen in einer am 15. April ausgestrahlten Sendung über Qualitätsstandards. Gelatine, die für Baustoffe und ähnliche industrielle Produkte verarbeitet wird, enthält einen sehr viel höheren Chromgehalt als Gelatine, die für den menschlichen Verzehr geeignet ist. Bei übergroßer Zufuhr wirkt Chrom giftig und ist krebserregend.

Genießbare Gelatine, die teurer als Industriegelatine ist, wird aus den Knochen und der Haut von Tieren gewonnen. Gelatine für industrielle Zwecke wird aus Lederresten hergestellt, die bei der Herstellung von Möbeln, Schuhen, Accessoires und Kleidung anfallen. Diese sind häufig stark mit Chrom durchsetzt, denn Chrom ist ein wichtiger Gerbstoff, der Tierhäute überhaupt erst in Leder verwandelt und somit ihre Haltbarkeit garantiert.

In der chinesischen Pharmakopöe, dem amtlichen Verzeichnis zugelassener Heilmittel mit Vorschriften zu deren Zusammensetzung, sind klare Regelungen für Medikamentenhüllen festgelegt. Unter anderem wird von den Pharmafabrikanten verlangt, die Kapseln nur bei Herstellern anzukaufen, die über eine Lizenz zum Herstellen von Medikamenten verfügen.

Der Kodex verlangt, dass der Chromanteil sowohl in den Kapseln, als auch in der Gelatine, die zur Herstellung verwendet wird, die Grenze von 2 Milligramm pro Kilogramm (0,0002 Prozent) nicht überschreiten darf. Dem Fernsehbericht zufolge enthielten einige der giftigsten Kapseln bis zu 181,54 Milligramm Chrom pro Kilogramm, und überstiegen somit den Grenzwert um mehr als das Neunzigfache. 

Ein Mitarbeiter einer Firma, die Kapseln aus Hartgelatine herstellt und in Xinchang in der Provinz Zhejiang angesiedelt ist, erklärte in dem Fernsehbericht, dass die Industriegelatine, die verbotenerweise zur Anwendung gebracht wird, die Herstellungskosten deutlich senken könne. Sie sei deshalb unter Produzenten äußerst beliebt, auch wenn der Chromgehalt die landesweiten Richtlinien weit übersteige.

Durch das Aufsehen, dass die Entdeckung des Missbrauchs erregt hat, in Panik versetzt, versuchte ein Fabrikant der inkriminierten Gelatine die Wahrheit durch Brandstiftung zu vertuschen: 

Am 15. April, dem Tag des folgenreichen Fernsehberichts, in dem auch die Firma Xueyang Glair Gelatin Factory genannt worden war, zündete der dort arbeitende Liu Aiguo das Betriebsgebäude der Fabrik an. Nach Angaben der Polizeibehörden des Landkreises Fucheng in der nordchinesischen Provinz Hebei habe Song Jianxin, ehemaliger Lokalbeamter und Bruder des Rechtsvertreters der Firma, Liu dazu angestiftet. Durch das Feuer sollten sämtliche Computer, Kassenbücher und belastendes Aktenmaterial vernichtet werden.  

Die Firma produzierte rund 280 Tonnen Gelatine im Jahr und beschäftigte 32 Arbeiter. Die Produkte, vor allem Industriegelatine, wurden an andere Firmen in Beijing, sowie in den Provinzen Jiangsu und Fujian verkauft, genauso wie an einzelne Kunden in der Provinz Zhejiang.

Der Brandstifter entwischte zwar zunächst durch den Hinterausgang des Werksgeländes, wurde später jedoch von der Polizei festgenommen. Nach Angaben der Behörden sind sowohl Song als auch Liu in polizeilichem Gewahrsam. Die Ermittlungen werden fortgesetzt.

Gerüchten im Internet zufolge soll Industriegelatine auch bei der Produktion von Joghurt und Pudding verwendet worden sein. Molkereikonzerne wiesen die Vorwürfe als gegenstandslos zurück.

Die Behörde für Lebensmittel und Medikamente (SFDA) gab am 15. April eine Warnmeldung heraus und ordnete an, dreizehn Arzneimittel von neun Pharmaunternehmen, die in dem Fernsehbericht namentlich genannt worden waren, vorläufig aus dem Handel zu nehmen. Bis zum Vorliegen genauer Laborergebnisse gilt ein Verkaufsverbot. In derselben Mitteilung forderte die SFDA die Kontrollbehörden für Nahrungs- und Arzneimittelsicherheit auf Provinzebene dazu auf, die Fälle zu untersuchen und die im Fernsehbericht genannten Arzneimittel zu überprüfen.

Am 19. April gab die SFDA die Untersuchungsergebnisse von 42 Chargen der verdächtigen Arzneimittel bekannt: 23 der Posten enthielten überhöhte Chromanteile, darunter auch einige, die von den neun Unternehmen hergestellt wurden, die im Fernsehbericht genannt worden waren.

Die Hersteller wurden dazu angehalten, die verunreinigten Medikamente zurückzurufen und sie unter Aufsicht der Behörden zu vernichten.

Am 20. April wies das Gesundheitsministerium alle medizinischen Einrichtungen an, ihre Bestände durchzusehen und die von der SFDA benannten Medikamente auszusondern, da diese wahrscheinlich kontaminiert seien. Krankenhäuser dürften die genannten Medikamente solange nicht mehr erwerben oder zur Anwendung bringen, bis die SFDA ihre Untersuchungen abgeschlossen habe, so die Anordnung des Ministeriums.

Das Ministerium für Öffentliche Sicherheit erklärte am 22. April, es seien bereits 77 Millionen Kapseln konfisziert worden, die aus Gelatine hergestellt sind, die nicht für den menschlichen Verzehr geeignet ist. Die Polizei hat neun Hauptverdächtige verhaftet und 54 Personen vorübergehend festgenommen. 80 Fertigungslinien für Industriegelatine und Kapseln wurden stillgelegt.

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