Schwarz auf weiß: Zhou Jianhua (links), Schuhhersteller aus Wenzhou, unterzeichnet einen Vertrag mit einer Firma zur Vergabe von Kleinstkrediten. Viele große Banken vergeben noch immer ungern Kredite an kleinere Unternehmen.
2011 kam dann, was abzusehen war: die große Kreditklemme und mit ihr der Eklat. Angesichts der Krise verrammelten viele Firmenchefs, über deren Köpfen drohend die Pleitegeier kreisten, ihre Fabrikhallen, ließen Betrieb und Mitarbeiter im Stich und machten sich kurzerhand mit dem letzten Geldkoffer im Reisegepäck aus dem Staub. „Das System der privaten Kreditvergabe fußt vor allem auf persönlichem Vertrauen. Angesichts des Zahlungsverzuges wäre es 2011 fast völlig zusammengebrochen", erinnert sich Fang.
Zwar gelobte die Regierung, alarmiert durch die Wenzhouer Krise, die Kreditvergabe an Klein- und Kleinstunternehmen zu erhöhen, aber die staatlichen Banken, die noch immer den Bankensektor des Landes dominieren, ziehen es weiterhin vor, ihr Geld an gut vernetzte Staatsbetriebe zu verleihen, bei denen sie sich sicher sein können, dass das Saldo ausgeglichen wird. Die Kreditkrise in Wenzhou hat die Situation nur noch verschlimmert. Seither ist es für Kleinunternehmen noch schwerer, Finanzierungen zu erhaschen. Und das ist schließlich das Problem: Mit Banken, die nicht gewillt sind, Klein- und Kleinstunternehmen Darlehen anzubieten, bleibt vielen Firmen nichts anderes übrig, als den Gang in den Untergrund zu wagen – in die Arme illegaler Privatkreditgeber.
Erste Ideen, das Finanzumfeld Wenzhous zu reformieren, gab es schon Ende 2011, auf dem Höhepunkt der Kreditkrise. Die lang ersehnte Entscheidung kommt nun zu einem Zeitpunkt, da die privaten Kreditgeschäfte im Untergrund Anlass zu heftigem Streit ums Geld bieten und kriminelle Machenschaften zutage fördern; die Stabilität von Wenzhou als Wirtschaftsstandort gerät darüber zusehends in Gefahr.
Deshalb hat die Regierung ein 12-Punkte-Programm vorgelegt. Zu den Hauptzielen gehören die Regulierung der privaten Finanzierungsmodelle und ihre Weiterentwicklung. Außerdem sollen private Geldgeber ermutigt werden, Banken in ländlichen Gebieten oder kleine Kreditfirmen zu gründen. Auch soll die Kreditvergabe staatlicher Banken an kleinere Unternehmen aktiv gefördert und sollen direkte Investitionen privater Investoren im Ausland erlaubt werden. Zurzeit prüft die Regierung außerdem die Einführung eines Datei-Verwaltungssystems für Privatfinanzierungen und sucht nach Möglichkeiten, die bestehenden Aufsichtsmechanismen zu verbessern.
Bisher illegale Geldgeber sollen sich in Zukunft als private Kreditanstalt registrieren lassen. Die Regierung lockt im Gegenzug mit weitreichender Freiheit beim Betrieb und vor allem mit dem Gütesiegel der Legalität. Außerdem hofft Beijing, private Geldgeber zu ermuntern, ihr Kapital in die Gründung von Banken und Kreditunternehmen in ländlichen Gebieten zu investieren oder sich zumindest im Zuge des Reformprozesses an solchen finanziell zu beteiligen. Dabei könnten bereits qualifizierte Unternehmen zur Vergabe von Kleinstkrediten in ländliche Banken umgewandelt werden, so die Hoffnung. Private Kreditgeber sollen außerdem angeleitet werden, Risikokapital aufzubauen, Private-Equity-Aktivitäten auszuführen sowie andere Formen von Investmentgesellschaften zu verwirklichen.
„Das Programm gibt die Richtung vor, in die das private Kapital kanalisiert werden soll", erklärt Zhang Yili, Vizepräsident der Fakultät für Betriebswirtschaft der Universität Wenzhou. „Da es notwendig wird, Privatkapital zu registrieren, können wir die private, informelle Kreditvergabe in eine formelle umwandeln, und holen sie so aus dem Untergrund ans Tageslicht. Wenn die privaten Kreditgeber erst einmal registriert sind, kann die Regierung deren Betrieb effektiv überwachen und regulieren", so Zhang weiter.
Die illegalen Kreditinstitute, die sich derzeit auf dem Markt tummeln, seien schwach und anfällig, sagt Ma Jinlong. „Schon bei geringstem Druck drohen sie, zu kollabieren, weil für sie keinerlei rechtlicher Schutz besteht. Die Registrierung ist der erste Schritt für eine staatliche Aufsicht."
Die Regierung sicherte außerdem zu, im Rahmen des Pilotprojektes die Gründung von Finanzierungsleasing-Unternehmen zu fördern, die Dienstleistungen für Klein- und Kleinstunternehmen und Privatpersonen auf dem Land anbieten. Außerdem wolle man die staatlichen Kreditinstitute und Aktienbanken ermutigen, Stellen einzurichten, die sich speziell mit der Kreditvergabe an kleinere Firmen befassen. Bisher seien solche Finanzierungsleasing-Unternehmen nur in den Metropolen Tianjin, Shanghai und Guangzhou, Provinz Guangdong, zulässig. „Durch die Etablierung solcher Unternehmen ermöglichen wir es den privaten Geschäftsleuten in Wenzhou, ihre Betriebsmittel, etwas Produktionsanlagen, über diese Firmen anzumieten", erklärt Fang.
Außerdem vorgesehen: Der Transfer von Technologie, geistigen Eigentumsrechten und Firmenanteilen von nicht börsennotierten Unternehmen sollen legalisiert und standardisiert werden, um die lokalen Klein- und Kleinstunternehmen zu ermutigen, in Wenzhou Schuldverschreibungen auszustellen und im Gegenzug für diese Firmen Garantiemechanismen zu etablieren. Darüber hinaus hofft die Regierung, kommerzielle Versicherer für die Beteiligung am Aufbau eines Sozialversicherungssystems zu gewinnen.
„Was wir sehen, ist ein positives Signal. Für eine endgültige Beurteilung der realen Effekte des Programms ist es aber eindeutig zu früh, vor allem solange die spezifischen Regeln noch nicht festgelegt sind, die das Projekt begleiten sollen", gibt Cheng Huifang, Dekan des Instituts für Management und Ökonomie der Technischen Universität Zhejiang, zu bedenken.
Die Regierung prüft derzeit außerdem ein Pilotkonzept, in dessen Rahmen den Bewohnern der Stadt gestattet werden soll, direkte Investitionen im Ausland zu tätigen. „Hierfür sollen reguläre, komfortable und direkte Investitionskanäle geschaffen werden", sagt Zhang. Falls das Konzept bewilligt werde, würde Wenzhou zur ersten chinesischen Stadt, die direkte Auslandsinvestitionen von Privatpersonen erlaubt.
Laut Chen Derong, Generalsekretär des Parteikomitees der Stadt, seien an der Finanzierungsklemme Wenzhous nicht finanzielle Engpässe schuld, sondern überschüssige Liquidität sowie ein Mangel an Investitionskanälen. Um der überschüssigen Liquidität Herr zu werden, startete die Stadt im vergangenen Jahr ein eigenes Auslandsinvestitionsprogramm, das allerdings nur wenige Wochen später wieder gestoppt wurde.
„Für die erfolgreiche Umsetzung des Projektes wird es letztlich entscheidend sein, ob es gelingt, passende politische Fördermaßnahmen zu finden", sagt Ding Zhijie, Dekan der Fakultät für Bankwesen und Finanzwirtschaft der Universität für Internationale Wirtschafts- und Betriebswirtschaftslehre. Da Chinas Kapitalbilanz noch immer relativ geschlossen sei, werde sich das Wenzhouer Pilotprojekt wohl auf direkte Auslandsinvestitionen beschränken, so Ding, trotz allem seien Echtheitsprüfungen und andere Regelungsmechanismen unabdingbar.
|