Allein in Beijing mussten im Zuge der Urbanisierung in den letzten Jahren rund 1000 historische Gebäude der Abrissbirne weichen, in ganz China gingen Schätzungen zufolge rund 44 000 kulturhistorische Bauwerke unwiederbringlich verloren. Oft werden die Bauten ohne offizielle Genehmigung dem Erdboden gleich gemacht, so wie jüngst die ehemalige Residenz des berühmten Architektenpaars Liang Sicheng/Lin Huiyin in Beijing, ein Fall, der für großes Aufsehen sorgte.
Nichts als Trümmer: Der abgerissene Eingangsbereich der ehemaligen Residenz des bekannten Architektenehepaars Liang Sicheng und Lin Huiyin.
Berühmte Eheleute: Liang Sicheng und Huiyin posieren während ihrer Feldstudien über traditionelle chinesische Architektur für ein Erinnerungsfoto.
Sind kulturhistorische Gebäude nichts als Stolpersteine der Urbanisierung, die unnötig die Entwicklung unserer Städte behindern, oder sollten sie als kostbare Zeugen der Bau- und Kulturgeschichte erhalten werden, die der Stadtentwicklung neues Leben einhauchen? Diese Frage rückte in Beijing jüngst erneut in die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, nachdem im östlichen Innenstadtbezirk Dongcheng die ehemalige Residenz von Liang Sicheng und Lin Huiyin, ein traditionelles chinesisches Hofhaus in dem das auch international bekannte Architektenehepaar in der Hochphase ihres Schaffens gewohnt hatte, abgerissen wurde.
Die prominenten Eheleute hatten von 1931 bis 1937 in dem traditionellen Siheyuan-Hofhaus im Hutong-Viertel Beizongbu gelebt und waren von dort aus zu Feldstudien in ganz China aufgebrochen. Ihr Interesse galt der Erforschung traditioneller chinesischer Architektur und dem Erhalt von Baudenkmälern. So entdeckten sie unter anderem, dass die Große Buddha Halle des Nanchan-Tempel im Wutai-Gebirge in Shanxi das älteste bis heute bestehende Holzgebäude Chinas ist. Es wurde im Jahre 782 während der Tang-Dynastie errichtet. Die Ergebnisse ihrer Forschung stellen einen bedeutenden Beitrag zum Denkmalschutz und zur Geschichte der chinesischen Architektur dar. Liang und Lin waren nicht nur maßgeblich an der Etablierung der Architektur als Universitätsfach beteiligt, sondern gelten als Begründer der Architekturgeschichte in China.
Lin Huiyin ging nicht nur als große Architektin in die Geschichte ein, die bildhübsche Frau betätigte sich auch schriftstellerisch, verfasste Prosa, Gedichte und Dramen. In den 1930er Jahren war die Residenz des Paares beliebter Treffpunkt literarischer Kreise der Hauptstadt.
Dank des großen Ansehens, das das Ehepaar zu Lebzeiten genossen hatte, wurde das Hofhaus, das 1980 renoviert worden war, im Dezember 2011 im Rahmen der dritten Bestandsaufnahme nationaler Kulturrelikte als bedeutendes Kulturdenkmal aufgelistet. Nach den Vorgaben des Büros für kulturelles Erbe stand es damit offiziell unter Denkmalschutz.
Das hielt den Bauträger eines Immobilienprojektes aber nicht davon ab, über die Feiertage zum traditionellen chinesischen Frühlingsfest Teile des historischen Bauwerks einzureißen. Der Vorgang löste eine Welle der Bestürzung aus und führte zu einer hitzigen Debatte.
Die Hintergründe
Das alte Hutongviertel Beizongbu hat in jüngster Vergangenheit sein Antlitz beträchtlich gewandelt. Noch vor zehn Jahren fand sich hier ein ruhiges und hübsches Wohnviertel, das vornehmlich aus alten Hofhäusern im traditionellen Stil bestand. Heute sind die alten Siheyuans größtenteils modernen mehrstöckigen Gebäuden gewichen. Beizongbu ist damit wie viele andere Stadtviertel Spiegel der fortschreitenden Urbanisierung und Modernisierung der Hauptstadt.
Die Abrissarbeiten begannen bereits im Juli 2009. Neben anderen Hofhäusern des Viertels mussten damals zunächst auch der Eingangsbereich der Residenz sowie die Räume im Westflügel des Hauses einem groß angelegten Immobilienprojekt weichen. Unter anderem entstanden ein Hotel, ein Bürogebäude und moderne Wohnungen in unmittelbarer Umgebung der historischen Residenz.
Das Vorgehen hatte schon damals für heftige öffentliche Reaktionen gesorgt. Nachdem sie herausgefunden hatte, dass sich die ehemalige Residenz des berühmten Architektenpaares im Abrissgebiet befand, stoppte die Beijinger Kommission für Stadtplanung daraufhin die Abrissarbeiten.
Am 28. Juli 2011 erklärte das Beijinger Denkmalschutzamt, man habe den Fall gemeinsam mit der Kommission für Stadtplanung überprüft und das zuständige Bauunternehmen dazu gedrängt, seine Pläne zu ändern, damit die Residenz erhalten bliebe.
Das Bauwerk sei als Kulturdenkmal gelistet. Es sei geplant, es nach Auszug der derzeitigen Bewohner zu restaurieren und neu auszustatten, hatte Li Chenggang, ein Funktionär des Bezirks Dongcheng, noch am 11. Januar dieses Jahres erklärt. Am 27. Januar wurde dann bekannt, dass das Gebäude bereits abgerissen ist.
Die Gebäude des Hofhauses hätten aufgrund ihres Alters und schlechten Erhaltungszustandes während des Frühlingsfestes (22. bis 28. Januar) eine akute Gefahrenquelle dargestellt, so die Begründung des zuständigen Bauunternehmens, hieß es in einem Bericht, den die Kommission für kulturelle Angelegenheiten des Bezirks Dongcheng beim Beijinger Denkmalschutzamt einreichte. Es handele sich um eine „Sanierungsmaßnahme", die der Rekonstruktion des Gebäudes den Weg ebnen solle, heißt es in dem Bericht weiter.
Am 28. Januar erklärte die Kulturkommission des Bezirks, dass der Abriss illegal und ohne Genehmigung erfolgt sei. Der Fall werde deshalb juristisch verfolgt.
Die Kommission wies das Bauunternehmen an, den Abriss aller verbliebenen Gebäudeteile des historischen Hofhauses zu stoppen und alle Baumaterialien sachgerecht zu lagern, damit sie bei den Restaurierungsarbeiten wieder verwendet werden könnten. Momentan habe das Unternehmen mit den Aufräumarbeiten begonnen. In Kürze werde mit der Restaurierung und der Rekonstruktion des Gebäudes begonnen, so die Behörde.
|