06-12-2011
Im Focus
Kann Respekt vor den Eltern anerzogen werden?
 

 

Jahrhundertelang war die Wendung "von allen Tugenden ist kindliche Pietät ( Xiao) die wichtigste" der Leitspruch für moralisch angemessenes Verhalten in China. "Kindliche Pietät" oder "Kindesliebe" meint folgsames und respektvolles Betragen gegenüber den Eltern. Kinder, die diese Tugend an den Tag legen, werden 孝子 X iaozi genannt. Kindesliebe wird als Grundlage zahlreicher ethischer Verhaltensmaßregeln und der grundsätzlichen moralischen Ausrichtung der traditionellen chinesischen Kultur gesehen.

Die Standards der überlieferten Moral gehen von der Kindesliebe aus und erstrecken sich von den Beziehungen zwischen Kindern und Eltern über das gesamte Gesellschaftsgefüge.

Das "Komitee für kindliche Pietät" der Chinesischen Gesellschaft für Ethik, eine Vereinigung, die auf Initiative einiger Professoren der Hunan Normal University gegründet worden ist, kündigte am 30. Oktober 2011 an, einer Million chinesischer Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren dabei zu helfen, innerhalb von fünf Jahren Kindesliebe zu erwerben.

Die Initiative hat eine hitzige Debatte ausgelöst. Befürworter sagen, dass die goldene Zeit für die Grundlegung kindlicher Pietät zwischen dem vierten und sechsten Lebensjahr ist. Demnach sehen sie in der Absicht des Komitees für ein derartiges Programm eine innovative und notwendige Maßnahme. Kritiker hingegen meinen, dass ein Programm dieser Art nicht die erhofften Resultate zeitigen wird, da wohlerzogene Kinder nicht durch ein Kurzzeitprogramm „produziert" werden können.

 

Kreativer Schritt

Zhu Haitao (www.qianlong.com): Das Vorhandensein von Kindesliebe trägt zu einem harmonischen und glücklichen Familienleben bei. Kinder, die ihre Eltern respektieren und ihnen kindliche Pietät und Dankbarkeit erweisen, haben bessere Aussichten, sich zu positiven Persönlichkeiten zu entwickeln. Kinder zwischen vier und sechs Jahren sind am empfänglichsten für Unterweisung in kindlicher Pietät. Diese Saat wird in ihren Herzen aufgehen und gute Früchte tragen. Kindesliebe ist die Grundlage jedweder Moral. Die Liebe, die ein Kind seinen Eltern erweist, ist ein Hinweis auf seine gesamte moralische Disposition und eine Voraussetzung zur Entwicklung eines angemessenen Verhaltens in allen Lebenslagen. Bevor Kinder gute Staatsbürger werden können, müssen sie einen respektvollen Umgang mit ihren Eltern pflegen. Das Projekt ist notwendig und sollte einen noch größeren Personenkreis einschließen.

Yuan Guangkuo (www.xinhuanet.com): Das wichtigste realistische Ziel des Projekts "Braves Kind" ist nicht die Aufzucht einer bestimmten Zahl "standardisierter" Xiaozi, sondern junge Menschen mit dem Gedanken der kindlichen Pietät vertraut zu machen. Deren Respekt und Liebe zu den Eltern und älteren Menschen wird für die gesamte Gesellschaft ein positives Zeichen setzen. Kindesliebe ist nicht leicht zu messen, aber sie kann gestärkt und verbreitet werden.   

 

Prahlerische Aktion

Es ist gut, Menschen darin zu bestärken, nett und respektvoll mit den Eltern umzugehen, aber ich glaube, es ist lächerlich, Millionen junger Xiaozi durch ein Trainingsprogramm heranzuzüchten. Die moralischen Standards eines Menschen werden in erster Linie durch Einübung und Erziehung erworben. Die erste Lektion über kindliche Pietät wird normalerweise von den Eltern selbst erteilt. Wenn die Eltern es an Respekt gegenüber ihren eigenen Eltern und alten Menschen fehlen lassen, dann in den meisten Fällen auch deren Kinder dieser Unart folgen. Außerdem ist die Schulbildung von großer Bedeutung. Lehrer sollten ihre Schüler dadurch anleiten, dass sie gutes Betragen hervorheben und auf schlechtes Verhalten mit Kritik reagieren. Wesentlich ist zudem der Einfluss des sozialen Umfelds auf die jungen Leute. Wenn Recht stets über Unrecht  und Gut über Böse siegt und jedes Mitglied der Gesellschaft glaubwürdig und selbstdiszipliniert handelt, werden sich auch die Kinder respektvoll benehmen. 

Im Allgemeinen ist die Entwicklung eines ethischen Bewusstseins ein langsamer und schrittweiser Prozess. Daher habe ich meine Zweifel, dass man innerhalb von nur fünf Jahren zu einem echten Xiaozi werden kann. Ehrlich gesagt bin ich neugierig, wie das Projekt umgesetzt werden soll. Wo kommen die Millionen von Kindern her, die in Xiaozi verwandelt werden sollen? Da kann es nur zwei Möglichkeiten geben: Entweder bewerben sich Eltern mit ihren Kindern dafür, oder die Veranstalter wählen sie unter den Besuchern von Kindergärten aus. Welche Kriterien werde für die Auswahl herangezogen? Ist es erforderlich, dass Eltern Geld dafür zahlen? Ist sichergestellt, dass die Kinder tatsächlich zu Xiaozi werden? Wenn die Eltern die letzte Instanz in der Beurteilung der Frage sind, ob ihr Kind ein Xiaozi ist oder nicht. Wer kann garantieren, dass sie objektiv bei dieser Einschätzung vorgehen? Wenn die Entscheidung darüber hingegen anderen Leuten überlassen bleibt, ist zu fragen, auf welcher Grundlage sie vorgenommen wird. Wenn Eltern dazu aufgefordert werden, für die Durchführung dieses Programms zu zahlen und jeder Teilnehmer eine Art Ehrentitel dabei erwerben kann, gibt es keinen Unterschied zwischen dem „Projekt Kindesliebe" und anderen Sonderkursen in den Vorschulen.

Unterweisung in Fragen der Moral ist nichts, was von heute auf morgen erfolgen kann. Die Vermittlung der Xiaozi-Eigenschaft auf breiter Basis ist unmöglich. Was die Gesellschaft viel dringender bräuchte, ist eine generelle Atmosphäre der kindlichen Pietät und Moral und nicht Projekte, die in erster Linie der Renommisterei dienen. 

 

Liu Xuhui (Guangming Daily): In der traditionellen chinesischen Kultur wird hervorgehoben, dass wahre Tugend in einem langdauernden Prozess entsteht. Verschiedene Maßstäbe für ethisches und moralisches Verhalten beschädigen nur das natürliche Moralempfinden des Menschen. Das "Projekt Kindesliebe" beabsichtigt, die moralischen Standards der Jugend zu heben. Dies geschieht in guter Absicht. Allerdings betrachtet dieses Projekt Erziehung als eine Art Fließbandprodukt, getragen von der Illusion, dass unter standardisierten Bedingungen eine gleichbleibend stabile „Moralproduktion" bewerkstelligt werden kann, so ähnlich wie in der Automobilindustrie hochwertige Autos gleicher Qualität vom Band laufen. Wenn Xiaozi schon in der Art von Industrieprodukten hergestellt werden sollen, muss es zunächst einen Prototypen geben, an dem sich die Produktion orientiert. Ehe das Programm gestartet wird, muss es eine klare Ausrichtung, eine Aufsicht über die Herangehensweise und eine abschließende Evaluation geben. Was genau sind denn die Eigenschaften eines Xiaozi? Gibt es dafür Indikatoren wie den Umfang seines Gehorsams gegenüber den Eltern? Oder wie oft ein Kind seine Eltern jeden Monat bekocht? Wahre Kindesliebe macht sich nicht an Äußerlichkeiten fest, sondern hat mit verinnerlichtem Respekt gegenüber den Eltern zu tun. Deshalb liegt der Schlüssel zur Heranbildung von Xiaozi in der Förderung des inwendigen Moralempfindens des Menschen durch kontinuierliche Moralerziehung. Im Alltagsleben haben wir jedoch schon zu viele angeberische „Projekte zur Hebung der kindlichen Pietät" erlebt, um einem solchen Projekt Glauben zu schenken. Hunderte von Kindern waschen ihren Eltern die Füße, Lehrer geben Hausaufgaben in Sachen kindliche Pietät. Es hat sich erwiesen, dass derartige Aktionen nicht in der Lage sind, die Kindesliebe zu fördern.

Um erfolgreich Xiaozi heranzubilden, ist es vor allem wichtig, sie durch reale Vorbilder zu schulen, nicht durch seltsame Prestigeprojekte. Ich denke da zum Beispiel an eine bessere Betreuung der Senioren durch eine Verbesserung des Sozialsystems und bessere öffentliche Dienstleistungen. Oder durch das Herausstellen von vorbildlichen Bürgern, die ihren Eltern kindliche Pietät erwiesen haben. So können die Kinder, geprägt durch das, was sie unmittelbar sehen und hören, als Menschen aufwachsen, denen Kindesliebe auf ganz natürliche Weise zu Eigen ist. 

 

Liang Shuang (Beijing Evening News): Die Kindesliebe in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten, ist ein wichtiges Anliegen. Wenn jedoch ein so grundlegendes Konzept wie Kindesliebe gefördert oder sogar gerettet werden muss durch ein landesweites Projekt, ist dies Grund zu Sorge und Scham. Wir müssen uns fragen, was nicht in Ordnung ist mit unseren Kindern. Der Plan sieht vor, Millionen von "artigen Kindern" innerhalb von fünf Jahren heranzubilden, aber angesichts der großen Zahl von Heranwachsenden im Lande sind eine oder zwei Millionen eine kleine Zahl. Können wir sicher sein, dass diejenigen, die als „artige Kinder" klassifiziert werden, tatsächlich so gut sind?  Viele Menschen sind nicht über das Projekt selbst besorgt, sondern über seine möglichen Auswirkungen. Wenn „artige Kinder" nicht nur in "Massenproduktion" gehen, sondern geeignet sind, bestimmten Bewertungsagenturen Profit einzutragen, sind Chinas Tugenden tatsächlich in Gefahr!

Es heißt, dass das Komitee für kindliche Pietät seit 2008 zahlreiche Erhebungen zu Pubertät und kindlicher Pietät durchgeführt hat. Von 100 Familien, die in die Untersuchungen einbezogen waren, haben 98 Prozent die Überzeugung geäußert, dass Kindesliebe in engem Zusammenhang mit den Schulleistungen und dem Heranwachsen ihrer Kinder steht. Bei Nachfolgeuntersuchungen hat sich erwiesen, dass 96 von hundert Probanden, die gute Schulleistungen erbrachten, in die Kategorie "artiges Kind" fielen, während von einhundert Jugendlichen, die an Computersucht litten, sich lediglich drei gegenüber ihren Eltern folgsam und respektvoll verhielten. Genügen zwei Untersuchungen mit jeweils einhundert Probanden, um Rückschlüsse auf die Jugend des ganzen Landes zu wagen? Können zwei Beispiele wirklich alle Arten von Familien in allen sozialen Schichten abdecken? In einer Zeit, in der den Schulleistungen die höchste Wichtigkeit beigemessen wird, scheint die Verbindung von kindlicher Pietät mit Schulerfolg eine Masche zu sein, um mehr Eltern dazu zu bewegen, ihre Kinder dem Xiaozi -Projekt anzuvertrauen.