25-11-2011
Im Focus
Stockfisch oder Sardine? Eine schöne Jugend!
von Zhou Hualei und Liu Shengnan
Wozu das ganze Hin und Her?

Schauen wir uns die ganze Geschichte von Zhang Yixuan an. Er ist im Jahr 1988 geboren. Er hat vier Jahre an der Kommunikationsuniversität (CUC) studiert und einen Bachelorabschluss gemacht. Nach dem Bachelor teilen sich die Absolventen in drei Gruppen: Ein Drittel von ihnen kehrt in die Heimat zurück, um dort Arbeit zu suchen, ein Drittel setzt das Studium fort, ein Drittel bleibt in Beijing und macht sich hier auf Jobsuche, ohne allerdings eine „Hukou" zu haben, das Niederlassungsrecht für die Stadt Beijing. Ganz wenige seiner Kommilitonen haben eine Festanstellung beim Staatsfernsehen CCTV oder bei der Nachrichtenagentur Xinhua bekommen.

Zhang findet einen Job in einer PR-Agentur, die im Medienbereich tätig ist. Die Firma liegt auch im Stadtteil Guomao. Er verdient dort mehr als 3000 Yuan im Monat. Mit Unterstützung seiner Eltern hat er beim Start in den Beruf eine Wohnung gekauft. Allerdings muss er über die Hälfte seines Gehalts jeden Monat zum Bedienen des Darlehens an die Bank abgeben. Da heißt es eisern sparen im Alltag! 

„Um Geld zu sparen, esse ich mittags immer bei McDonald´s oder KFC. Fast Food hängt mir schon zum Halse raus! Aber in Guomao sind diese beiden Kettenrestaurants konkurrenzlos billig", sagt Zhang.

Zhang ist groß und sieht gut aus. Eigentlich hatte er eine Freundin aus Beijing. „Für sie wollte ich nach einem besseren Leben streben", sagt er. Leider lief die Beziehung nicht wie gewünscht. Das Mädchen verliebte sich in einen anderen Mann, der ihr Taschen von Louis Vuitton und Armbänder von Gucci schenkte. 

Liebesfrust und Fast Food waren nicht die einzigen Dinge, die Zhang von Beijing entfremdeten. Sein Chef zwang ihm ständig Überstunden auf. 

Schließlich folgte er dem Rat der Eltern und kehrte in die Heimatstadt zurück, eintausend Kilometer von Beijing entfernt. Dort haben die Eltern alles für ihn arrangiert. 

In seinem neuen Job verdient er ebenfalls 3000 Yuan. Allerdings ist das Geld hier mehr wert als in der teuren Hauptstadt. Außerdem ist die Arbeit leicht: Manchmal erschöpft sie sich darin, pro Tag ein Dokument zu faxen oder den Chef zu einem Bankett zu begleiten. Einen Großteil der Arbeitszeit verbringt er bei Computerspielen.  Nach Feierabend geht er zum Essen nach Hause. Vollpension in Hotel Mama. Eigentlich wollte er ja Schriftsteller werden, bis er herausgefunden hat, dass ihm nichts Rechtes einfiel, worüber sich zu schreiben lohnte. Ein schlechtes Zeichen.

Schon nach wenigen Monaten hat er den Job bei der Tabakbehörde wieder hingeschmissen. Für seine Umgebung sah es aus, als hätte der Junge aus der Provinz in Beijing Prahlerei und Anspruchsdenken kennen gelernt. Auf ihn selbst aber wirkten die Provinzler, als seien sie mit den Jahren immer schlauer und durchtriebener geworden. Wie mit Stadtwasser gewaschen.

Zhangs älterer Mitstudent Liu Pei ist nach acht Jahren Beijing in seine Heimatstadt Chengdu im Südwesten Chinas zurückgekehrt. Da Lius Eltern früher normale Arbeiter in einer Fabrik waren, kam er nicht in einer Amtsstube unter, sondern blieb seinem Fach treu und fand Arbeit als Fernsehreporter bei einem Sender in der Heimatstadt. Seine gute Ausbildung und seine ausgezeichneten Englischkenntnisse haben sich dabei allerdings als eher hinderlich erwiesen: Einerseits ist ihm der Neid der Kollegen gewiss, andererseits sehen sie auf ihn herab, weil er auch keine anderen Arbeiten zu erledigen hat als ein Oberschulabsolvent aus Chengdu.  

Außerdem gibt es bei der Auswahl der Themen für Fernsehbeiträge einen starken Druck durch Zensur und provinziellen Geschmack: Über den Brand eines Busses in Chengdu im Jahr 2009 durfte man gar nicht berichten. Stattdessen stehen Familiendramen hoch im Kurs: Wenn sich Schwiegermütter mit ihren Schwiegertöchtern fetzen oder Ehefrauen gegen die Geliebten treu sorgender Familienväter handgreiflich werden, ist das allemal eine Sendung wert. 

In Lius Bekanntenkreis werden eifrig Autos gekauft, man sucht nach Statussymbolen, die Erfolg ausstrahlen. Wenn sie dann über die lästigen Staus auf den Straßen Chengdus jammern, schwingt für Liu darin immer auch der Stolz der Provinz mit, es den großen Metropolen gleichzutun. 

Liu Pei stellte sich immer die Frage, ob es besser sei, wie eine Sardine oder wie ein Stockfisch zu leben? „Sardine" ist der Großstädter inmitten hektischen Gedränges, „Stockfisch" steht für den Provinzler, der in der Kultur- und Freizeitwüste vegetiert. Es ist vielleicht die Wahl zwischen Pest und Cholera …

 

Zurück, zurück, zurück!

Nach etwas über einem Jahr entschloss sich Tang Guo, Beijing aufzugeben. Jeden Monat hielt sie nur 1 500 Yuan in Händen. Zu Mittag aß sie in der Firmenkantine und abends gab es neben ihrem Schlafplatz Instantnudeln. Plastikbecher aufreißen, heißes Wasser drüber, fertig! Nur so konnte sie in Beijing überleben. Wenn sie sich hätte anders ernähren wollen, hätte sie ihre Eltern um einen Zuschuss bitten müssen. Ihr Laptop kostete 3799 Yuan, ihre Mutter sprang ein, verschwieg aber dem Vater, dass sie Geld überwiesen hatte. Der Familie fehlt es nicht an Geld. Tangs Vater baut Wassermelonen an und kann daraus einen Jahresgewinn von 50 000 bis 60 000 Yuan ziehen. 

Aus ihrem Handy drang jeden Tag die Stimme ihrer Mutter: "Komm nach Haus zurück und bewirb dich um eine feste Anstellung als Lehrerin!"  

Ihr Wunsch, in Beijing zu bleiben, scheiterte an der Realität. Im Mai 2011 ging Tang schließlich zurück in die Heimat.

Zu Hause war sie wieder die kleine Tang, niemand sah in ihr eine junge Frau, die aus der großen Stadt zurückgekehrt war. Nur sie selbst empfand sich so. Wenn sie anderen von ihren Erlebnissen in der Hauptstadt erzählte, hörten ihre Eltern das gar nicht gerne. Sie fanden, dass das alles nichts mit ihnen zu tun hatte.  

Tang aber konnte sich nicht mehr so recht ins Kleinstadtleben fügen. Während Tangs Vater auf dem Feld arbeitete, redete ihre Mutter ihr oft ins Gewissen, sich nur ja mit ihren Worten zurückzuhalten, um andere nicht durch Großspurigkeit vor den Kopf zu stoßen, was sich nur zu ihrem Nachteil auswirken könne.

Tang Guo wollte eine brave Tochter sein und folgte dem Ratschlag der Eltern, an der Prüfung für Dorfschullehrer teilzunehmen. Um die schriftliche Prüfung brauchte sie sich keine Sorgen zu machen, denn sie bereitete sich gewissenhaft darauf vor.  Allerdings gab es da noch das Interview. „Beziehungen sind sehr wichtig beim Interview. Meine Eltern sind nur normale Bauern und haben keine Chance, irgendeinen Draht zur Schulbehörde zu ziehen", sagt Tang. Glücklicherweise hat Tang eine Schulfreundin, deren Vater Beamter in der Kreisregierung ist. Die Eltern hatten 20 000 Yuan für Tangs Prüfung zur Seite gelegt. "Wer gut schmiert, der gut fährt!" ist ihr Leitspruch. Sie wussten nicht, welche Rolle ein in Pension gegangener Leiter des Forstamtes bei der Lehrerprüfung spielen könnte. Allerdings fanden sie, es sei schon sehr gut, wenn man überhaupt irgendjemanden "von da oben" kennt. 

Erst zehn Tage vor der schriftlichen Prüfung erfährt Tang, dass in diesem Jahr ganz andere Prüfungsfragen gestellt werden als in den Vorjahren. Sie aber hatte sich auf den alten Stoff vorbereitet. Sie besteht die Prüfung nicht.   

Tang könnte nun zu Hause bleiben und Trübsal blasen. Platz genug gibt es ja in ihrem Elternhaus. Sie wollte keinen Job als Verkäuferin oder Kellnerin im Kreis suchen, denn dort kennen sie alle und der Gesichtsverlust wäre zu groß gewesen für sie als ein Mädchen mit Bildung. „Ich glaube noch an Freiheit und ein besseres Leben", meint sie. Obwohl Beijing als Stadt nichts für sie bedeutet, fühlt sie sich angezogen von der Freiheit, die dort herrscht. Sie geht wieder nach Beijing zurück.

 

Harter Alltag in Beijing

Obwohl das Leben in Großstädten ziemlich hart ist, haben ihre Namen doch einen guten Klang: Beijing, Shanghai und Guangzhou. Und wirklich gibt es viele Vorteile dort: altberühmte Hochschulen, Luxusgeschäfte, gute Krankenhäuser und vieles mehr. Hier sind die Niederlassungen der führenden Unternehmen der Welt, für junge Leute verheißt dies Arbeit und Aufstiegschancen. 

Beijing ist für die wiedergekommenen Ex-Heimkehrer noch genauso wie früher: Die Stadt ist immer noch überfüllt, das Leben immer noch unerschwinglich. Nur die Werbung in der S-Bahn für Immobilienprojekte preist jetzt Lagen an, die weit außerhalb der Stadt liegen. Zum Beispiel Langfang, eine Stadt in der Provinz Hebei: „In 15 Minuten das Herz der Finanzwelt, Guomao, erreichen!" Es scheint so, als wollte das Leben in Beijing einen neuen Anlauf nehmen und ist dabei ein wenig übers Ziel hinausgeschossen.

Dank seines fließenden Englisch hat Rückkehrer Liu Pei einen Posten als Marketing-Manager im Wanda-Hotel bekommen. Er ist nun häufig auf Dienstreise durch die Welt der Hotellerie, er verhandelt mit Kunden von allen Kontinenten und übernachtet in Fünf-Sterne-Hotels. Wenn er dann wieder seine angemietete Wohnung in Beijing betritt, kann er sich lange Zeit nicht an den Kontrast gewöhnen. Obwohl die Wohnung am östlichen dritten Ringe liegt, gibt es in der Umgebung einen lauten Gemüsemarkt und viele Straßenhändler. Die Möbel in der Wohnung sind ziemlich alt, die Installationen heruntergekommen. Jedes Mal, wenn Liu das Fenster aufmacht, hat er Angst, dass das Fenster aus dem Rahmen fallen könnte.  

Trotz der anstrengenden Tage in Beijing will Tang Guo nie wieder in die Heimat zurückkehren. „Nichts ist besser als die Freiheit!", sagt sie heute mit dem Ausdruck noch größerer Überzeugung.

Ihre Erfahrung mit der missglückten Lehrerprüfung hat Tang darüber belehrt, dass in der Kleinstadt die Vitamin B-Gesellschaft herrscht. Dort ist man vollkommen von Beziehungen abhängig. Da ist es sogar noch leichter, sich in der Großstadt durchzuschlagen.

Allerdings macht das noch nicht den ganzen Unterschied zwischen Großstadt und Provinz aus. In Großstädten gibt es eine bessere Infrastruktur, eine effizientere Verwaltung, bessere Dienstleistungen und alle Annehmlichkeiten des modernen Lebens. Das ist letztlich auch der Grund dafür, dass Zhang Yixuan auf das von seinen Eltern wohl organisierte, bequeme Leben in der Provinz verzichtet hat.

Obwohl er wieder von der Hand in den Mund leben muss und manchmal Geld von den Eltern erbittet, ist er diesmal guter Dinge. Jeden Tag nach Feierabend kommt er nach Hause, trinkt ein bisschen Schnaps und guckt alleine einen Film auf DVD. Was für ihn am wichtigsten ist: eine Zeitschrift hat ihn eingeladen, Filmkritiken für sie zu schreiben.    

Beijing leuchtet. Das ist auch der Grund, warum Liu Yin sich hier immer festgekrallt und die Stadt nie verlassen hat. Bald wird sein Kind zur Welt kommen. Mit ihm tritt erneut eine schwere Entscheidung in sein Leben: Bleiben oder fortgehen aus der Hauptstadt?

 

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