
Um dem raschen Bevölkerungswachstum zu begegnen, führte China 1982 die Ein-Kind-Politik ein. Seither konnte zwar die Geburtenrate deutlich gesenkt werden, gleichzeitig entstanden aber auch neue Probleme wie zunehmende Überalterung, ein Ungleichgewicht der Geschlechter und eine Generation von Einzelkindern. Hat die Ein-Kind-Politik vor diesem Hintergrund noch Zukunft? Die Beijing Rundschau lässt Kritiker und Befürworter zu Wort kommen.
1982 erklärte China die Ein-Kind-Politik zu einem Grundpfeiler der nationalen Politik. Das rasche Bevölkerungswachstum der vorangegangenen Jahrzehnte hatte das Land damals bei Bildung, Gesundheitsversorgung und Beschäftigung sowie beim Streben nach einem höheren Lebensstandard zunehmend vor große Herausforderungen gestellt. Auch das Problem der Armutsbekämpfung schien angesichts hoher Geburtenraten nur schwer lösbar.
Durch die strikte Geburtenkontrolle gelang es China als einzigem unter den hoch bevölkerten Entwicklungsländern, zumindest über einen Teil des letzten Jahrhunderts die Geburtenzahlen auf niedrigem Niveau zu halten. In jüngster Vergangenheit mehren sich aber kritische Stimmen. Zunehmend wird über eine Abschaffung der Ein-Kind-Politik diskutiert, da die Regelung auch eine ganze Reihe sozialer Probleme mit sich gebracht hat. Heute ist die chinesische Gesellschaft mit Überalterung und einer ganzen Generation von Einzelkindern konfrontiert. Auch die Kosten für die Umsetzung der Regelung steigen. Die Gelder und Ressourcen könnten sinnvoller in das Bildungssystem sowie die Verbesserung des sozialen Umfelds und der Umwelt investiert werden, argumentieren die Kritiker.
Die Beijing Rundschau zeichnet ein Stimmungsbild chinesischer Medienvertreter zur Debatte um die Lockerung oder Abschaffung der Ein-Kind-Politik. Gegner und Befürworter kommen zu Wort.
Li Jun, Redakteur von www.bwchinese.com:
„Der Bevölkerungsrückgang ist schon jetzt irreversibel. Heute liegt die jährliche Geburtenzahl bei rund 15 Millionen Neugeborenen - 1988 waren es noch 25 Millionen. Gleichzeitig sterben in China jedes Jahr durchschnittlich 10 Millionen Menschen. Schätzungen zufolge wird Chinas Bevölkerung ab dem Jahr 2015 nicht mehr wachsen, im Gegenteil: schon bald wird es weniger Chinesen geben.
Die Politik der Geburtenkontrolle beschleunigt den Bevölkerungsrückgang und hat gleichzeitig eine Reihe von Problemen mit sich gebracht. Es gibt viele Gründe, warum die Zahl der Wanderarbeiter in den großen Städten zurückgegangen ist; einer davon ist sicher auch der Bevölkerungsschwund. China steht heute vor dem Dilemma einer zunehmenden Vergreisung der Bevölkerung und einem Mangel an jungen Arbeitskräften. Schon sehr bald werden in vielen Bereichen die negativen Auswirkungen der rückläufigen Bevölkerungszahlen spürbar werden. Die Überalterung wird das System der Altersversorgung auf eine harte Probe stellen und den Druck auf junge Arbeitnehmer erhöhen. Außerdem hat die Geburtenkontrolle für ein unausgewogenes Geschlechterverhältnis gesorgt, das sich als ein schwerwiegendes soziales Problem erweist.
Die Abnahme der Geburtenzahlen wird künftig auch dazu führen, dass es weniger Schulen gibt. Schon heute werden viele Grundschulen und Unterstufen der Mittelschulen zusammengelegt oder geschlossen, weil es nicht gelingt, genug Schüler zu finden. In manchen Gebieten ist auch die Zahl der Schüler der Oberstufe der Mittelschulen rückläufig. Im kommenden Jahrzehnt wird sich diese Situation noch verschärfen. Für viele Lehrer wird das bedeuten, dass sie ihren Posten räumen müssen.
Ab 2020 wird die Bevölkerungszahl in China rapide zurückgehen, so die Prognosen. Für die chinesische Regierung bedeutet das, dass sie dann nicht nur die bisherige Politik der Geburtenkontrolle zurücknehmen muss, sondern eine Strategie zur Geburtensteigerung auf den Weg zu bringen hat, um dem Trend entgegenzuwirken.
Die Etablierung des Marktwirtschaftssystems 1992 hat für eine Zunahme der Bevölkerungsbewegungen gesorgt. Das führte zu einem Rückgang der Geburtenraten, bestärkt auch durch die strenge Ein-Kind-Politik. Schon heute stehen wir also vor dem dringlichen Problem eines irreversiblen Bevölkerungsrückganges – selbst wenn wir die Ein-Kind-Politik abschafften."
Zhao Xiao, vom Nachrichtenportal www.ce.cn:
"Sechs Gründe, warum die Einkind-Politik ein Auslaufmodell ist. Drei Jahrzehnte nach der Einführung der Ein-Kind-Politik sind zahlreiche Probleme aufgetreten, die mit der Geburtenkontrolle in Verbindung stehen. Sechs davon stechen besonders hervor:
Erstens ist der Mangel an Wanderarbeitern. 2011 fehlen in Shanghai Schätzungen zufolge 300 000 Arbeitskräfte vom Land, in Guangzhou sind es 150 000, in Shenzhen sogar 800 000. Von 2004 bis 2011 ist der Anteil der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter jährlich um durchschnittlich 13,6 Prozent gesunken. Das ist einer der Hauptgründe für den Mangel an Wanderarbeitern, der sich seit 2005 abzeichnet.
Zweitens hat sich ein Ungleichgewicht der Geschlechter entwickelt. Daten des Staatlichen Statistikamts belegen, dass das Geschlechterverhältnis bei Neugeborenen derzeit bei nahezu 120 zu 100 liegt; es kommen deutlich mehr Jungen auf die Welt als Mädchen. 40 Millionen Männer werden in Zukunft Probleme haben, eine Frau zu finden. Das kann fatale Folgen wie käufliche Ehen und eine steigende Zahl von Sexualdelikten haben.
Drittens ist die chinesische Gesellschaft mit einer zunehmenden Vergreisung konfrontiert. Prognosen der Vereinten Nationen besagen, dass der Anteil der über 60-Jährigen in China 2050 rund 31,1 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen wird. Damit läge er deutlich höher als der weltweite Durchschnitt von 21,9 Prozent. China altert schneller, als es reich wird.
Viertens verändert sich die Bevölkerungsstruktur auch qualitativ. In den Städten wird die Geburtenkontrolle viel strenger durchgesetzt als auf dem Land. In den weitläufigen ländlichen Gebieten bedeutet die Geburt eines weiteren Kindes nach wie vor ein weiteres Stück Wohlstand – das gilt auch für ärmere Familien, solange man den Nachwuchs nur Durchfüttern kann. Meist wachsen die Kinder aber in einem wenig vorteilhaften Umfeld auf. Die gut ausgebildeten Bevölkerungsschichten in den Städten verzichten dagegen immer öfter gänzlich auf Nachwuchs. Hohe Lebenshaltungskosten, starke berufliche Belastung und auch hochgesteckte Karriereziele sind die Hauptgründe für die Kinderlosigkeit vieler Paare. Chinas Eliten bringen immer weniger Kinder zur Welt, während in den rückständigen Gebieten weiterhin viele Kinder geboren werden.
Fünftens stellt das Bevölkerungswachstum auch eine Gefahr für Chinas Wirtschaftswachstum dar. Einer der Gründe für Chinas rasanten wirtschaftlichen Aufstieg ist seine hohe Sparquote. Obwohl die Regierung jüngst private Investitionen und Geschäftstätigkeiten stark fördert und an einigen Orten die Sozialabsicherungsnetze bereits gut entwickelt sind, bleibt die Sparquote bisher unverändert hoch. Der wahre Grund hierfür liegt in der Bevölkerungsstruktur. Derzeit ähnelt Chinas Altersstruktur einer Olive – mit einem üppigen, jungen Mittelbau. In diesem Lebensabschnitt wird üblicherweise auch das meiste Geld erwirtschaftet und angespart. Hält die Regierung an der Politik der Geburtenkontrolle fest, wird sich Chinas Altersstruktur in eine umgekehrte Pyramide verwandeln. Dieser Entwicklungstrend wird zu einer Senkung der Sparrate führen und folglich werden auch die Investitionen sinken. Das wird Chinas Wirtschaftswachstum mit Sicherheit stark ausbremsen.
Sechstens stellt die Geburtenkontrolle langfristig auch eine Gefahr für die chinesische Kultur dar. Bei nur einem Sprössling pro Familie wird dieser in der Regel gehegt, gepflegt und verwöhnt, nicht nur von den Eltern, sondern auch von den Großeltern. Wie können wir von einer derart verwöhnten Generation erwarten, dass sie in Zukunft Chinas große Herausforderungen meistert? Zivilisationen überleben und entwickeln sich durch ihre Menschen. Wenn die Bevölkerung als Träger von Kultur und Zivilisation abnimmt, dann wird auch ein Teil dieser Kultur verschwinden. Die Ein-Kind-Politik ist ein Auslaufmodell und es ist an der Zeit, dass sie anderen Strategien das Feld überlässt."
Su Yiyang, von www.rednet.cn:
„Es wäre falsch, die bisherige politische Linie leichtfertig zu verlassen. Die Ein-Kind-Politik ist eine der politischen langfristigen Strategien Chinas und sie passt zu den nationalen Gegebenheiten. Immer noch wünschen sich viele Paare mehr als ein Kind. Durch den raschen wirtschaftlichen Aufstieg des Landes werden die Menschen in China immer wohlhabender und sind finanziell immer besser in der Lage, Kinder zu ernähren und großzuziehen. In den weitläufigen ländlichen Gebieten gibt es trotz der Geburtenkontrolle noch immer mehr Geburten, als eigentlich vorgesehen.
Die Politik muss die Zeichen der Zeit erkennen. Die Kontrolle des rasanten Bevölkerungswachstums spielt eine Schlüsselrolle für Chinas Zukunft. Strikte Vorgaben auf Regierungsebene sind nur dann nützlich, wenn sie bis auf die unteren Ebenen durchgesetzt werden, andernfalls bleiben sie wirkungslos. Es wäre falsch, die bisherige politische Linie leichtfertig zu verlassen. Ich mache mir vielmehr Sorgen über die tatsächliche Umsetzung der Geburtenkontrolle in einigen Gegenden, vor allem in Chinas ländlichen Gebieten.
Liu Zhijun, Redakteur der Global Times:
„Eine überhastete Wende wäre äußerst unklug. Die Ein-Kind-Politik ist seit den 1990er Jahren mehrmals überarbeitet worden, um sie so den Bedürfnissen der Bevölkerung besser anzupassen. Es ist eine genaue Abwägung nötig, bevor die Regierung die derzeitigen Regelungen lockert und zwei oder mehr Kinder pro Familie erlaubt oder gar Maßnahmen ergreift, um die Geburtenzahlen zu erhöhen. Was wir brauchen, ist eine Planung nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten und eine geordnete Umsetzung.
Einige Kritiker der Ein-Kind-Politik vertreten den Standpunkt, Chinas Entwicklungserfolge hätten nichts mit der Geburtenkontrolle zu tun. Manche gehen sogar noch weiter und behaupten, die Geburtenkontrolle hemme Chinas wirtschaftliche Entwicklung. Ich halte diese Ansichten für falsch. Die strenge Geburtenkontrolle hat die Ausgaben für die Kindererziehung drastisch reduziert und zu einer vermehrten Kapitalanhäufung beigetragen.
Wir sollten die negativen Effekte der Ein-Kind-Politik nicht kaschieren, aber ein pessimistischer Blick auf die Zukunft ist ebenfalls unangebracht. Die wirtschaftlichen Errungenschaften, die China dank der ,demographischen Dividende" erreicht hat, haben uns bereits ein Polster für die zukünftige „demographische Schuld" verschafft. Solange wir die nötigen Maßnahmen ergreifen, können wir eine ökonomische, soziale und demographische Balance erreichen.
In Wahrheit ist es die strenge Ein-Kind-Politik, gegen die sich die Menschen sträuben, nicht die Politik der Familienplanung als solche. Wenn die zuständigen Behörden das im Hinterkopf behalten, wird es für sie leichter sein, ihre Arbeit zu erledigen.
Keine politische Strategie ist ohne Makel, das gilt auch für die Ein-Kind-Politik. Es hilft nichts, die Mängel dieses politischen Weges zu kaschieren - das wird die Probleme nicht lösen. Eine zu kritische Haltung und eine überhastete Wende wären aber ebenfalls äußerst unklug.
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