An einem ganz normalen Samstag in einer ganz normalen Wohnung irgendwo in Toronto. Es ist sieben Uhr morgens. An Ni hat gerade für ihren siebenjährigen Sohn das Frühstück bereitet. Er ist in Shanghai zur Welt gekommen. Bei seiner Geburt schlang sich die Nabelschnur um seinen Hals. Durch Sauerstoffmangel ist seine Entwicklung retardiert. Vor vier Jahren übersiedelte die Familie nach Kanada. Der Zweck ist klar: An Ni und ihr Mann wollten für ihren Sohn bessere Lebensbedingungen schaffen. In Kanada ist eine entsprechende medizinische Versorgung garantiert und der Besuch einer Förderschule möglich. Im gleichen Wohnviertel wohnt ein weiteres chinesisches Ehepaar, die Zeng. Nach dem Frühstück will An Ni mit ihm einen Ausflug unternehmen. Herr Zeng Qi ist erst im Vorjahr mit seiner Familie nach Kanada ausgewandert. In China war er Manager eines internationalen Konzerns. Jetzt arbeitet er als Software-Designer in einer kanadischen Firma.
Familien wie die von An Ni und Zeng Qi sind typische Einwanderer in Kanada. In den letzten Jahren wächst die Zahl chinesischer Einwanderer in Kanada stetig. Statistiken der kanadischen Immigrationsbehörden zufolge hat das Land im Jahr 2009 insgesamt 2055 sogenannter „Investitionseinwanderer" aufgenommen, Immigranten, die Kapital zur Firmengründung mitbringen. 1000 von ihnen stammten aus China.
Eine ähnliche Situation liegt in anderen klassischen Einwanderungsländern vor, wie zum Beispiel Australien, Neuseeland, die USA und Singapur. Chinesen stellen dort einen hohen Anteil an Immigranten.
Schleichender Verlust?
„Die Kinder sollen eine bessere und zeitgemäßere Ausbildung bekommen." „Es bieten sich hier mehr Chancen für die Entwicklung meiner Geschäfte." „Hier kann ich mein Lebensideal verwirklichen." – Jeder hat eigene Beweggründe für seine Auswanderung. Bedeutet der Fortzug von Eliten aber nicht auch einen schleichenden Verlust für die chinesische Gesellschaft? Seit 1978 sind 1,06 Millionen Chinesen zum Studium ins Ausland gegangen, nur 275 000 von ihnen sind nach China zurückgekehrt.
Es streben nicht nur Talente ins Ausland, um dort ihre Träume zu verwirklichen, sondern es werden auch Vermögenswerte transferiert. Allein im Jahr 2009 sind 2,35 Milliarden Yuan (267 Millionen Euro) durch Einwanderung nach Kanada geflossen. Dazu meint Xu Youyu, Analyst an der Akademie für Sozialwissenschaften: „Der Verlust durch Auswanderung ist unsichtbar. Eigentlich könnten reich gewordene Unternehmer maßgeblich zur Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft beitragen. Aber sie wandern nach Übersee aus. Für Chinas Gesellschaft ist dieser Verlust umfangreich und sehr tiefgehend."
Ein Zeichen für die wachsende Lieberalisierung
He Liangliang, Moderator bei Phoenix-TV findet aber nicht, dass die Auswanderung der sogenannten Eliten der Stabilität der chinesischen Gesellschaft abträglich sei. Aus- und Einwanderung sei ein normales Phänomen für ein Land. Sogar in den Industrieländern gebe es Auswanderer: „Ein Teil der Elite geht fort, ein anderer Teil rückt an dessen Stelle. Kein Grund zur Beunruhigung!" Für eine sich wirtschaftlich rasch entwickelnde Macht wie China sei Auswanderung ein ganz normales Phänomen. Die steigende Zahl von Auswanderern seit Beginn der Reform- und Öffnungspolitik sei auch Zeichen für die wachsende Liberalisierung der Gesellschaft. Neben den besonders dynamischen Auswanderern, die ihre berufliche Erfolgsgeschichte durch einen Wegzug nach Übersee krönten, gäbe es durchaus auch Chinesen, denen das Tempo der Veränderungen in China zu hoch sei, und die deshalb als „Stressflüchtlinge" ihr Heimatland auf der Suche nach einem beschaulicheren Leben verließen.
Eliten durch freiheitliche Politik anlocken
In den letzten Jahren sind bereits eine Reihe von Vergünstigungen beschlossen worden, die als Anreiz für qualifizierte Rückwanderer funktionieren sollen. Diese Politik ist sicherlich sinnvoll. Es sei allerdings daran erinnert, dass erst dann, wenn sich die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse nachhaltig verbessert haben, mit einer größeren Zahl von Rückwanderern zu rechnen ist. Blickt man nach Singapur und Südkorea, die jahrzehntelang bedeutende Auswandererströme erlebt haben, so stellt man fest, dass erst eine boomende Wirtschaft und eine grundlegende Demokratisierung der Gesellschaft einstmals abgewanderte Eliten zur Rückkehr motivierten.
. |