Eines schönen Sommertages versammelte sich eine Gruppe von Besuchern aus der ganzen Welt am Fuße des Potala-Palastes in Lhasa, unter ihnen Chefredakteure und Journalisten führender Medien aus dem Westen. Als Globetrotter haben sie viel von der Welt gesehen und sind gut informiert; mit ihrem Kugelschreiber bewerten sie Leute, Länder, Landschaften und Ereignisse – einfach alles, was sie direkt oder indirekt gesehen oder gehört haben. Ohne sie wäre die Welt farblos, geräuschlos, ohne Wissen voneinander oder ohne gegenseitige Feindseligkeit. Sie üben eine verantwortungsvolle Tätigkeit aus, auf die sie stolz sein können. Mit großem Interesse beobachteten sie die faszinierende Stadt Lhasa. Einige von ihnen waren auf dem neu eröffneten „himmlischen Weg", nämlich der Qinghai-Tibet-Eisenbahn, angekommen und noch mit ihren Gedanken auf der Eisenbahnfahrt über das Hochplateau – sie hatten noch den klaren, blauen und mit leichten Wolken bedeckten Himmel vor Augen, die in leichten Nebel eingehüllten heiligen Seen und die grünen Weiden mit ihren Antilopen, die glücklich herumsprangen. So machtvoll und beruhigend die unberührte Natur des Hochlandes auf die Reisenden gewirkt hatte, die laute und hektische Stadt Lhasa traf sie dann doch unvorbereitet. Diejenigen, die mit dem Bus angereist waren, waren schon besser auf den Wandel der Atmosphäre eingestellt. Aber auch sie waren sprachlos beim Anblick des zinnoberroten Potala-Palastes und seiner goldenen Dächer. Einige bedeckten ihre Brust mit ihren Händen, als ob sie ihr Herz vor dem Zerreißen bewahren wollten.
Aus den unterschiedlichsten Gründen glaubten einige, dass der Potala-Palast ein Kloster, ein „religiöser Veranstaltungsort" sei. Gleichgültig wie sehr man auch versuchte, es ihnen zu erklären, sie beharrten darauf, dass dieser Palast der tibetischen Könige seit dem großartigen Tubo-Führer Songzain Gambo ein Lamatempel sei. Es ist wahr, dass der Palast die Residenz der Dalai Lamas war, aber man darf nicht vergessen, dass die Dalai Lamas hier ihre duale Macht ausübten, nämlich gleichzeitig als höchste Führer der Religion und weltlicher Kreise im theokratischen Tibet, ganz so wie regierende Könige und Herzöge im Westen, welche die Führung der lokalen Regierung als auch der Kirche inne hatten. In ihren Residenzen gab es auch Kapellen zur religiösen Erbauung, aber deswegen wurden diese Residenzen noch lange nicht Klöster genannt.
Der Potala ist und bleibt ein Palast. Unter seinen goldenen Dächern lebten verdienstvolle Helden, aber auch mittelmäßige Herrscher. Der Palast war Augenzeuge von scharfsinnigen Entscheidungen, aber auch von brutaler Kriminalität. Genauso wie königliche Paläste im Westen, so hatte der Potala sein eigenes Gefängnis für Gefangene, die aus verschiedenen Gründen für schuldig erklärt worden waren. In diesem Gefängnis wurde massiv gefoltert und der Strafvollzug war brutaler und grotesker als im mittelalterlichen Europa. Die schlimmsten Erfahrungen machte der Reting Rinpoche (1912–1947), der wegen seiner Idee der nationalen Einheit und seines Engagements gegen die tibetische Abspaltung zum Tod verurteilt worden war. Zu dieser Zeit wurde der 14. Dalai Lama inthronisiert, hatte aber noch keine politische und religiöse Macht. Der von der Qing-Regierung anerkannte Reting Rinpoche fungierte als Regent und hatte somit die höchste politische und religiöse Macht inne. Der junge und intelligente Reting liebte sein Land und seine Religion und erfreute sich hoher Achtung unter den tibetischen Klerikern und Laien. Gleichwohl zettelten britische Kolonialisten eine blutige Verschwörung in der Absicht an, Reting zu beseitigen und Tibet von China zu trennen.
Die Separatisten verbreiteten zuerst Gerüchte und zwangen dann den Rinpoche, seine Regentschaft an Tadrag zu übergeben, einem Anglophilen in seinen Siebzigern, jedoch unter der Voraussetzung, dass Tadrag ihm nach drei Jahren die Macht wieder zurückgebe. Nachdem der Reting Rinpoche sich wieder dem Praktizieren des Buddhismus im Reting-Kloster widmete, zeigte Tadrag zunehmend sein wahres Gesicht. Er hielt engen Kontakt mit H. E. Richardson, dem ersten ständigen Vertreter
Englands in Tibet, später ständiger Vertreter Indiens in Tibet. Tadrag entließ wichtige Beamte der Reting-Regierung, änderte seine Politik und hinterging die Zentralregierung. Nach den drei Jahren brach Tadrag sein Versprechen, indem er sich weigerte zurückzutreten. In der Zwischenzeit forcierte er gemeinsam mit Richardson die Realisierung seiner Abspaltungsabsichten. Der Reting Rinpoche schrieb der Zentralregierung und berichtete über die Situation in Tibet. Im Februar 1947 besuchte Richardson Tadrag und täuschte ihn vorsätzlich, indem er behauptete, Reting habe die Zentralregierung gebeten, Truppen nach Tibet zu schicken und dass deren Ankunft bevorstehe. Tadrag war alarmiert und schickte unverzüglich zweihundert tibetische Soldaten zum Reting-Kloster. Der unvorbereitete Rinpoche wurde in den Potala entführt, eingesperrt und im Gefängnis gefoltert. Als Mönche und Laien in Lhasa davon hörten, erhob sich ein zorniger Protest. Tadrags Armee umzingelte die Klöster Shide und Sera. Richardson gab Tadrag nicht nur militärische Ratschläge, sondern entsandte auch einen britischen Telegrafentechniker und ließ eine Telegrafenverbindung zwischen der tibetischen Armee, Tadrag und der Kashag (tibetische Regierung) aufbauen. Er leitete auch den Angriff auf das Kloster Sera. Nach einem zweitätigen Kampf war das Kloster verloren, und bis auf zehn Mönche, die nach Kham (Region in Osttibet, an Sichuan, Yunnan und Gansu angrenzend) fliehen konnten, wurden alle anderen entweder gefangen genommen oder getötet. Am 7. Mai wurde der Reting Rinpoche im Gefängnis hingerichtet.
Der Terror unter den goldenen Dächern könnte auch an eine Tragödie in Europa erinnern, die sich dreihundertvierzig Jahre vorher ereignete.
Am 7. Februar 1600 erklärte die römische Inquisition am Campo die Fiori die heliozentrische Kosmologie von Nikolaus Kopernikus als Häresie und ließ Giordano
Bruno wegen Ketzerei verbrennen. Trotzig erklärte Bruno, dass die Erde sich weiterhin um die Sonne drehen werde, auch wenn man ihn verbrenne.
Zwischen diesen beiden Tragödien darf kein direkter Vergleich gezogen werden, da sie von unterschiedlicher Natur sind. Die eine wurde durch eine „orthodoxe" Religion gegen „Häresie" hervorgerufen, die andere durch blutige Kriminalität an einem Religionsführer wegen unterschiedlicher Haltungen gegenüber dem Land.
Aber das Vergleichbare ist, dass die Sprache des Blutes zeigt, wie wild, dunkel und brutal Religion sein kann, wenn diese mit Mächten verbunden ist, die sich der Überwachung und Kontrolle entziehen.
Die furchtlose Stimme von Bruno widerhallt weiterhin in Raum und Zeit.
Der Traum des Reting Rinpoche wird wie eine Brise durch Tibet getragen. Sie lässt Gebetsfahnen, Tangka und Fahnen flattern, bestreicht das grüne Gras und kehrt das Laub im Norbulingka (Sommerpalast des Dalai Lama), und lässt das ewige Wasser im Lhasa-Fluss sich kräuseln. Aber die sanfte Brise zeigt auch das Seufzen des Reting Rinpoche. Er selbst wählte Lhamo Dhondrub, geboren in einem kleinen Dorf in der Provinz Qinghai, als Seelenknaben des 13. Dalai Lama. Er bat die Zentralregierung, ihn ohne Losziehung aus der Goldenen Urne zu inthronisieren. Die Zentralregierung sandte Wu Zhongxin, Kommissar für mongolische und tibetische Angelegenheiten, nach Tibet, um die Authentizität des Seelenknaben zu prüfen und zu bestätigen. Kommissar Wu überwachte die Inthronisationszeremonie und verlieh dem 14. Dalai Lama das von der Zentralregierung ausgestellte Ernennungszertifikat und das Amtssiegel.
Die Pracht des Potala-Palastes überstrahlt diese tragischen Ereignisse der Vergangenheit. Buddhisten umrunden wie eh und je fromm den Palast und schwingen
ihre Gebetsmühlen in den Händen. Weiters gibt es Pilger, die den Weg zum Potala mit ihrer Körperlänge abmessen – niederwerfen, aufstehen und wieder niederwerfen. Die Geschäfte um den Barkhor gleichen denen einer modernen Stadt und Fußgänger scheinen die Schatten der verweilenden Seelen nicht wahrzunehmen, die über der Moderne schweben – nämlich die von H. E. Richardson und Francis Younghusband. Doch diese verweilenden Seelen sind wirklich präsent. Sie provozieren weiterhin mit den Lügen aus der Vergangenheit und versuchen, die Sonne mit den schwarzen Wolken des Truges zu verdecken.
Und hier ist über einen Zufall der Geschichte nachzudenken! Im Jahr 1600, als Bruno sein Leben für seinen Glauben opferte, wurde auch die Britische Ostindien-Kompanie gegründet. Die Geschichte dieser Pseudo-Gesellschaft, welche auf Plünderung und Verlogenheit gegründet war, ist von den Gräueltaten der britischen Kolonialisten bei ihrer Invasion Asiens durchzogen. Die Ostindien-Kompanie war auch der Urheber des Opiumkrieges und der später brodelnden „Tibetfrage".
Die meisten westlichen Journalisten, die das heutige Tibet besucht haben, berichten in fairer und korrekter Weise, doch es gibt weiterhin auch solche, welche die Wahrheit ignorieren, um die Lügen schmiedenden Politiker zu unterstützen. Heutzutage gibt es auch Herrschaften, die leidenschaftlich ihren eigenen Willen Tibet aufzwingen, wohin sie gar nicht gehören.
Das vorliegende Buch soll keine allgemeine Geschichte über Tibet darstellen, auch kein tibetisches Abenteuer-, olkloreoder Monografiebuch. Es beinhaltet Überlegungen, die Rätsel und Verwirrungen über Tibet zu lösen, und bedient sich dabei der Kontemplation, ausführlichen Diskussion und leicht verständlichen Erläuterungen. Auch die brüderliche Verbundenheit gegenüber den tibetischen Landsleuten kommt deutlich zum Vorschein, sowie die Hoffnung auf eine schönere Zukunft in Tibet. Aufgeschlossene Leser können durch den Inhalt inspiriert und bewegt werden.
ISBN 978-3-941284-19-7
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Der Autor:
Su Shuyang (geb. 1938) ist Ehrenmitglied des Nationalkomitees im Chinesischen Schriftstellerverband, Fachberater des Verbandes der Chinesischen Filmschaffenden und Drehbuchautor erster Kategorie auf nationaler Ebene. Sein Werk umfasst Romane wie Heimatland und Der Tod des Lao She sowie Theaterstücke wie Das Lied der treuen Herzen und Die Nachbarn. Sein China: ein Lesebuch zur Geschichte, Kultur und Zivilisation ist in ein Dutzend Sprachen übersetzt worden, darunter Englisch, Deutsch und Russisch. Die in- und ausländische Auflage beträgt über zehn Millionen Exemplare. Su Shuyang wurde im Jahr 2007 der Titel „Hervorragender Nationaler Dramaturg" verliehen. |