25-10-2013
Blog
Sightseeing mit der „Kaiserin“ von Beijing
von Wang Xinglai

Wie ich zwei Schweizern die Verbotene Stadt zeigte und meine Großtante das Kommando übernahm.

 

Vor einiger Zeit habe ich Reiseführer für zwei Schweizer gespielt, die für ein paar Tage in Beijing waren und die Verbotene Stadt besichtigen wollten. Meine Großtante, die fast siebzig Jahre alt ist, hat darauf bestanden, mich bei meiner Arbeit zu begleiten. Als alte Beijingerin, die hier schon fast seit einem halben Jahrhundert lebt und noch dazu direkt am Tiananmen, wo auch die Verbotene Stadt liegt, war sie überzeugt, dass sie sich besser auskannte als ich, die nun erst seit paar Wochen in Beijing war.

Ich ignorierte die Tatsache, dass es sich eigentlich nicht gehört, sich selbst zu einem Arbeitstermin (schließlich wurde ich dafür bezahlt) eines anderen einzuladen und nahm das Angebot dankbar an. Ich dachte mir: Wo sie Recht hat, hat sie Recht. Ich kannte mich in der Tat nicht sonderlich gut in Beijing aus und in der Verbotenen Stadt mit ihren unzähligen Gängen und Palästen erst recht nicht. Der letzte Besuch lag noch in der Kindheit. Ein Anruf genügte und schon machten wir uns am besagten Tag, meine Tante und ich, zu zweit auf den Weg.  

Es war gerade Nationaler Feiertag und die Stadt quoll nur so über vor Menschen. Touristen aus allen Teilen des Landes drängten sich um den Platz des Himmlischen Friedens, es war ein Gedrängel, das selbst für China eine Ausnahme war. Die Verbotene Stadt war voller Touristen, es war definitiv eine gute Entscheidung, meine Großtante mitgenommen zu haben. Die zwei Schweizer stellten sich als Vater und Sohn heraus – der Vater um die fünfzig, der Sohn zarte achtzehn. Der Vormittag verlief ganz gut. Ich war in meinem Element – dank meiner Tante, die eine große Quasselstrippe ist und unentwegt irgendwelche Fakten über die Verbotene Stadt raushaute (endlich sah ich die positive Seite ihres Temperaments), war ich nie um ein Wort verlegen.

Gegen Mittag waren die beiden Schweizer müde und wollten ein Plätzchen suchen, um etwas zu essen. Meine Tante, fast siebzig, war immer noch voller Energie und drängte mich, die Tour weiter zu machen und die beiden zu dem kleinen Berg hinter der Verbotenen Stadt zu führen. Ich musste sie immer wieder daran erinnern, dass der Kunde der König sei und wir das machen müssten, was der Kunde von uns verlangt. Wenn die zwei Schweizer zu müde sind, dann sind sie zu müde. Wir als Reiseführer hätten keine andere Wahl, als ihrem Wunsch zu folgen. Meine Tante sah das ein und musste wider ihre Natur klein beigeben. Ihren Willen nicht durchzusetzen war sie anscheinend nicht gewohnt.

Also setzten wir uns zu viert in ein typisches kleines chinesisches Restaurant in der belebten Touristen- und Einkaufsstrasse nahe Tiananmen, in der man noch traditionelle Architektur, diverse Delikatessen und traditionelle Kleidung finden kann, und bestellten etwas zu essen. Als ich von der Toilette zurückkam, traute ich meinen Augen nicht. Meine Großtante hatte doch tatsächlich die Hälfte meines süßsauren Pflaumensaftes (ein typisches Getränk aus Beijing) dem Sohnemann eingeschenkt. Dieser erklärte mir augenzwinkernd, dass er gezwungen wurde, etwas von meinem Saft zu probieren. Wir mussten beide lachen.

Meine Tante kippte daraufhin wieder etwas von meinem Getränk in das Glas des Vaters und deutete energisch mit dem Finger darauf, offensichtlich blieb auch dieser nicht verschont. Der Vater schaute mich an und meinte: „Wenn ich das nicht austrinke, wird sie nicht glücklich sein, oder?" Ich nickte achselzuckend und der Vater kippte daraufhin sein Glas hinunter. Während des Essens drängte meine Tante auf typisch chinesische Art den Sohn dazu, sämtliche Speisen auszuprobieren und mehr zu essen. Was in China als Gastfreundschaft angesehen wird, schien dem Sohn alles andere als freundlich. Dankend lehnte er ab. Meine Tante fragte noch einmal. Dankend lehnte er ab. So ging es paar Mal hin und her. Ich konnte nur stauen über die beidseitige Ausdauer, mit der beide auf ihren Wunsch beharrten. Es war ein Tauziehen der ganz besonderen Art, amüsant und doch peinlich und unangenehm zugleich. Nachdem der Junge schließlich doch noch ein Stück vom chinesischen Bohnenpastekuchen probiert hatte, fragte meine Tante ihn erwartungsvoll: „Und, hat es geschmeckt?" Er darauf, strohtrocken: „Nö." Nach einem kurzen Moment des peinlichen Schweigens brachen schließlich alle in Gelächter aus.

Der Stimmung hat dieser kleine Aussetzer nicht geschadet, aber der kulturelle Unterschied wurde mehr als deutlich vor Augen geführt. In diesen kurzen Sekunden konnte man förmlich den Zusammenprall unterschiedlicher Kulturen hören. Das einander vorbei kommunizieren zweier unterschiedlicher Mentalitäten. Was in der einen Kultur als normal und durchaus fürsorglich angesehen wird, wenn auch etwas überspitzt und in extremer Form, prallte an einer anderen Kultur völlig ab, in der man nur über die Dominanz und den herrischen Eingriff in die eigene Entscheidungsfreiheit staunen konnte.

Alles in allem, es war ein spannender Tag. Das Leben mit meiner Großtante ist zwar nicht immer einfach, aber man gewöhnt sich langsam daran. Man lernt, sich anzupassen, sich auf andere einzustellen, auch wenn sie noch so schwierig sein mögen, auch wenn man vieles nicht unbedingt versteht oder für richtig hält. Darauf kommt es doch letztendlich an, wenn man sich in eine fremde Kultur begibt, in eine neue Welt eintaucht. Man lernt, vieles zu akzeptieren und damit zu leben, und vielleicht, ganz allmählich, gewinnt man Fremdes auch lieb.