Es sollte ein schönes Wochenende in der Inneren Mongolei werden, eine kurze Erholung vom lauten grauen Beijing. Die Anreise erwies sich allerdings als weitaus abenteuerlicher als erwartet
Wer in China reist, sollte besonders in der Sommerzeit gut planen. Für kürzere Strecken ist es durchaus anzuraten, den Zug zu nehmen, allerdings sind die „guten" Tickets (Schlafwagen oder Weichsitzer) in den Hauptreisezeiten oftmals schnell ausverkauft. Die Tatsache, dass an den Stationen entlang einer Fahrstrecke unterschiedlich bemessene Kontingente an Fahrkarten zur Verfügung stehen, verkompliziert die Sache noch. Da ich mit einem chinesischen Freund gemeinsam nach Hohhot reisen wollte, bot er an, unsere Tickets zu besorgen. Die Rückfahrkarte war leicht zu bekommen. Allerdings mussten wir uns in Ermangelung einer Fahrkarte für die Hinfahrt dazu durchringen, ein Flugticket zu kaufen, wenn wir die Reise nicht absagen wollten. So weit, so gut.
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Die Passagiere scharen sich um die Duty Manager und verlangen eine angemessene Entschädigung.
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Zur Beweissicherung wird das Geschehen gefilmt.
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Die Sicherheitskräfte halten sich im Hintergrund und begnügen sich mit Zusehen.
21:00 Uhr. Pünktlich haben wir das Flugzeug bestiegen. Eine halbe Stunde nach regulärer Abflugzeit befinden wir uns jedoch immer noch am Boden, wenn auch unweit der Start- und Landebahn. Die widersprüchlichen Durchsagen des Piloten machen uns auch nicht schlauer. Durchs Fenster blicke ich nach draußen, wo es zu nieseln begonnen hat.
21:45 Uhr. Schließlich heißt es, das Flugzeug müsse wegen des Regens wieder zur Abflughalle zurückkehren. Die Passagiere werden unruhig und spekulieren, was das zu bedeuten habe. Etliche zücken ihre Smartphones und beginnen fieberhaft zu tippen. Ein Mann behauptet, der Flug sei auf der Homepage schon als gestrichen vermerkt. Die Stewardessen machen gute Miene zum bösen Spiel und verweisen uns auf das Bodenpersonal. Wir werden gebeten, in die Flughafenhalle zurückzukehren und dort die weitere Vorgehensweise zu erfragen. Mittlerweile ist die Mehrheit der Passagiere entnervt. Mehrere schwören erbost, sie werden nie wieder diese Fluglinie buchen.
22:10 Uhr. Ich werde mit der Menge bis ans Gepäckförderband gespült. Unter den Rufen „Wo ist unser Gepäck?" freue ich mich insgeheim, dass ich diesmal nur mit Handgepäck reise. Auch das Bodenpersonal in der Ankunftshalle kann uns nicht weiterhelfen und schickt uns nach längerem Hin und Her weiter in den dritten Stock.
22:45 Uhr. Im dritten Stock sitzt ein älterer Flughafenbeamter; er hat heute Nachtdienst und sieht müde aus. Mit einem Mal sieht er sich mit einer Horde von aufgebrachten Passagieren konfrontiert, die sich alle dicht an die ihn schützende Glasscheibe drängen. „Wo ist unser Gepäck?"-- „Wann geht der nächste Flug?" -- „Wo sollen wir jetzt übernachten?" Der Beamte bleibt zunächst ruhig und teilt uns mit, dass der nächste Flug um 7 Uhr morgens sei. Einige Stimmen werden laut, dass diese Behandlung unmöglich sei, hätten sie doch wichtige Termine in Hohhot. Mehrere der empörten Passagiere beginnen erbost auf die Glasscheibe zu schlagen. Ich halte mich im Hintergrund und begnüge mich damit, das Geschehen staunend zu beobachten. In der Ferne (die Halle ist riesengroß und zu dieser späten Zeit wirkt sie durch die wenigen Menschen noch weitläufiger) sehe ich den matten Lichtschein eines kleinen Supermarktes. Verlockend, aber mein aufkommender Hunger muss derweil noch der Neugierde über die sich entfaltende Situation weichen. Wieder klopft jemand zornig auf die Scheibe; ich nehme leicht schockiert wahr, dass es mein Freund Li ist. Wie sich herausstellt, konnte nach uns ein anderer Flug problemlos starten und landen. Die Information erzürnt die Menge aufs Neue. Ein Mann nimmt das an der Scheibe angebrachte Schild, auf dem Duty Manager steht, und wirft es zu Boden.
23:00 Uhr. Ein junger chinesischer Wachmann nähert sich. Nach Abschätzen der Situation packt er sein Mobiltelefon aus und versucht das Geschehen unauffällig zu filmen. Inzwischen ist ein zweiter, jüngerer Beamter auf der Bildfläche erschienen. Auch er verschanzt sich vorsichtshalber hinter der Scheibe und versucht, der aufgebrachten Menge ruhig gegenüberzutreten. Die fordert immer lautstarker Entschädigung und die Unterbringung in einem Hotel. Von den zornigen Fluggästen zunächst unbemerkt taucht im Hintergrund eine unscheinbare Frau in roter Uniform auf und ruft unsere Flugnummer aus. Sie wolle uns zu einem Hotel führen. Die Information wird lauthals weitergegeben und die gestrandeten Urlauber, die nicht zu Dauercampern im Flughafen werden wollen, folgen ihr erwartungsfroh ins Erdgeschoss, wo wir dann im Nieselregen auf einen Bus warten.
23:20 Uhr. Als der Bus schließlich eintrifft, ertönen plötzlich laute Rufe: „Nicht einsteigen!" Ich frage meinen Begleiter Li, was passiert ist. Er teilt mir mit, dass gerade bekannt wurde, dass sich das Hotel im Bezirk Tongzhou befindet, recht weit vom Flughafen entfernt. Angesichts der späten Abendstunde und des früh am Morgen angesetzten Ersatzfluges empfinden viele der Passagiere das als eine unverschämte Zumutung. Ein kritischer Punkt ist erreicht: Die Opfer des Flugausfalls spalten sich in „Kompromissler", die in den Bus steigen und den weiten Weg auf sich nehmen, und den harten Kern der Verweigerer, die eine angemessenere Entschädigung fordern. Eine Chinesin mittleren Alters übernimmt das Kommando und unter Schlachtrufen begibt sich der harte Kern zurück in die Abflughalle.
23:30 Uhr. Am Schalter stellt sich heraus, dass es weitere Fluggäste gibt, deren Flüge gestrichen worden sind und die schon seit einiger Zeit am Flughafen warten. Unweigerlich muss ich an den Film „The Terminal" denken, in dem sich Tom Hanks aufgrund misslicher Umstände für mehrere Monate am Flughafen einquartieren muss. Kein schöner Ausblick. Da würde ich doch lieber durch die innermongolische Graslandschaft reiten.
23:40 Uhr. Die große Flughafenhalle ist mehr oder weniger verlassen, bis auf unser Grüppchen, das aufgebracht nach Entschädigung verlangt. Ein Mann redet sich immer mehr in Rage und gebraucht dabei Kraftausdrücke, die man selbst im fortgeschrittensten Chinesischunterricht nicht lernt. Einige Umstehende blicken betreten drein, andere nicken zustimmend. Mehrere Polizisten nähern sich vorsichtig. Einer trägt eine Filmkamera, die schließlich dem cinephilen jungen Wachmann gereicht wird.
23:50 Uhr. Die Diskussion um eine angemessene Entschädigung geht weiter, wobei nun immer mehr Wachkräfte und Polizisten als Zaungäste dazustoßen. Sie halten sich im Hintergrund und beobachten; insgesamt zähle ich acht Sicherheitskräfte. Einige Passagierinnen beschweren sich bei der Polizei darüber, dass ihnen die Fluggesellschaft noch nicht einmal Wasser angeboten hätte, schließlich seien doch auch Kinder unter den Reisewilligen. Stumm und verwirrt starren sich die Polizisten nur gegenseitig an. Ihre Blicke sagen: Wir wollten doch nur zusehen; wieso werden wir jetzt in diese leidige Sache hineingezogen?
00:05 Uhr. Von irgendwoher werden uns nun doch noch kleine Wasserflaschen gebracht. Ein kleiner Sieg, aber das Aushandeln ist längst noch nicht gewonnen. „Und was ist mit Essen? Wir warten doch schon seit Stunden!" Essen sei auf dem Weg. Innerhalb der nächsten halben Stunde können 200 Yuan RMB (25 Euro) Abfindung für die Streichung des Fluges ausgehandelt werden. Einige geben sich damit zufrieden und gehen; eine Gruppe von rund dreißig Leuten aber weist das Angebot als unzureichend zurück und besteht weiterhin auf eine angemessene Entschädigung.
01:00 Uhr. Mehrere Passagiere tragen eine Sitzgarnitur herbei und stellen sie vor dem Schalter auf. Plötzlich steigt ein junger Mann auf den Schalter und beschimpft unter wilden Drohgebärden über die Glasscheibe hinweg die beiden Beamten. Er sei schon seit 36 Stunden hier auf dem Flughafen, ohne dass ihm vernünftige Alternative angeboten worden wäre! Ein Polizist – seiner Rolle als Zuschauer überdrüssig - greift ein und fordert ihn auf, herunterzusteigen, was jedoch eine Zeitlang verweigert wird. Es scheint, als würde die Situation jeden Augenblick eskalieren. Aber die Menge hält zusammen; dem beherzten Beschwerdeführer wird beigestanden. Ein anderer Passagier vermittelt zwischen ihm, der kampflustig sein Kinn vorstreckt, und dem Polizisten.
01:25 Uhr. Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass das Essen, das gebracht werden soll, nichts weiter als Kekse sind. Meine Suche nach „richtigem" Essen ist leider nicht von Erfolg gezeichnet; nur McDonald`s hat zu dieser späten Nachtzeit noch offen. Während ich einen wenig befriedigenden BigMac verzehre, sehe ich meinen Leidensgenossen beim Fortgang der Verhandlungen zu. Bei 300 Yuan RMB (38 Euro) ist das Ende der Fahnenstange erreicht, mehr ist nicht drin.
02:05 Uhr. So stellen auch wir uns schließlich an, um unsere bescheidene Entschädigung in Empfang zu nehmen, die immerhin die Hälfte des Flugpreises ausmacht.
06:30 Uhr. Nach mehreren Stunden unbequemen Schlafes auf den Sitzgarnituren des Beijinger Flughafens (zwischen den einzelnen Sitzplätzen sind wuchtige Armlehnen montiert, die nicht entfernt werden können, was den Schlafkomfort stark beeinträchtigt) heben wir schließlich – Hurra! – pünktlich um 7 Uhr Richtung Hohhot ab. Die Nacht voller Abenteuer hat mich gelehrt: In Zukunft werde ich meine Reisen früher planen und -- wo immer es geht -- der hurtigen Eisenbahn den Vorzug vor flügellahmen Donnervögeln geben! |