13-10-2010
Blog
Hoch hinaus
von Julian Heißler

Shanghai hat sich in kürzester Zeit zur modernsten Stadt Chinas gemausert. Doch manches ist am Boden geblieben.

 Nur langsam schieben sich die Menschenmassen vorwärts. Obwohl die Hauptferienzeit noch gar nicht angefangen hat, sind die Straßen und Gassen in Shanghais Altstadt schon komplett verstopft. Nur in Trippelschritten bewegen sich die Besucherscharen an den glitzernden Fassaden der westlichen Modemarken und chinesischen Schnellrestaurants vorbei.

Altstadt" ist ein interessantes Wort für diesen Teil Shanghais. Zwar standen hier wohl schon vor Jahrhunderten Häuser, doch mit dem jetzigen Straßenbild hat diese Tradition wohl kaum etwas zu tun. Vor nicht allzu langer Zeit wurde hier im Rahmen des Wirtschaftsbooms konsequent durchsaniert. Pardon wird nicht gegeben; die älteren Teile der neuen Bausubstanz sind von 1998. „Disneyland", nennt ein Shanghaier das Viertel dann auch ein wenig lakonisch.

Wenige hundert Meter weiter sind die Straßen immer noch voll, doch anstatt bedruckter Papiertragetaschen trägt man hier einfache Plastiktüten. Die polierten Fassaden sind verschwunden, stattdessen prägen niedrige Häuschen das Straßenbild. Der Geruch von Fleischspießen und Kochöl zieht von den kleinen Ständen am Wegesrand durch die Gassen. Nicht weit entfernt repariert ein Mann einen Fernseher auf der Straße, nebenan verkauft ein anderer gebrauchte Kühlschränke.

Shanghai – das ist das Symbol für Chinas wirtschaftlichen Aufstieg. Die Skyline des Business-Distrikts Pudong mit seinen fantastisch hohen Wolkenkratzern und der futuristischen Architektur ist heute auf der ganzen Welt bekannt. Touristen schlendern durch die von grünen Bäumen gesäumten Straßen des ehemals französischen Konzessionsgebiets oder das alte jüdische Viertel und begeistern sich an den vorzüglichen Restaurants und Bars. Doch auch Shanghai ist eine Stadt der Gegensätze, zu der die Lilongs, jene typischen Wohnquartiere der Altstadt, genauso gehören wie der Bund.

Noch sind die Fensterscheiben verklebt, doch in wenigen Tagen kommt die Folie ab. Dann wird er eröffnet, der neue, gigantische Flagshipstore der Firma Apple in der „French Concession". Das neue iPhone, das iPad, teure Laptops – so wird die Auslage aussehen. Der Apple-Shop in Beijing ist immer voll, und vermutlich wird auch der in Shanghai die Kunden anziehen. Denn wer hier einkaufen geht, der muss nicht so sehr aufs Geld schauen. Rund um das Geschäft liegen teure Restaurants, dazu die sauber polierten Repräsentanzen anderer Nobelmarken. Ein Paradies für Besserverdienende im Kaufrausch.

Nicht weit entfernt bildet sich auch eine Menschentraube vor einem Haus – doch zu kaufen gibt es hier nichts. Wieder sorgen Absperrgitter und Sicherheitsmänner für Ordnung vor dem Eingang, doch hier ist kein Swarovski-Geschäft, ganz im Gegenteil. Es ist das Gründungshaus der Kommunistischen Partei Chinas.

Im Inneren sind die Unterschiede größer. Statt staubfreier Auslagen mit Handys oder Schmuck liegen hier Zeitungen der Arbeiterbewegung aus den 1920ern und Fotos aus der Zeit, als Shanghai noch unter Kontrolle der Kolonialmächte stand. An den Wänden hängen die Biografien der dreizehn Gründungsdelegierten des ersten Parteitags von 1921. Im Eingangsraum hängt die rote Fahne mit Hammer und Sichel.

Die Herzkammer der KP umgeben von Konsumtempeln? Für Shanghai scheint dies kein Widerspruch zu sein. Seit die Regierung in den frühen 90ern die wirtschaftliche Öffnung der Stadt vorantrieb, hat sie ein rasantes Wachstum erlebt. Heute gilt Shanghai als modernste Stadt Chinas.

Nirgends wird das so deutlich wie im Bezirk Pudong. Hier, auf der östlichen Seite des Huangpu-Flusses, stehen die Bauwerke, die dem modernen Shanghai seine Prägung geben. Erst vor 20 Jahren wurde mit dem Ausbau begonnen – heute steht hier der drittgrößte Wolkenkratzer der Welt, das Shanghai World Financial Center. Es ist eines von bislang rund 700 Hochhäusern im Bezirk. Bald werden es über 1000 sein.

Der Blick aus der Cloud 9-Bar gibt schon einen Vorgeschmack darauf, wie Shanghai dann aussehen wird. Im 87. Stockwerk des zweithöchsten Wolkenkratzers von Pudong gelegen, zählt sie zu den höchsten Bars der Welt. In 421 Metern Höhe schlürfen die Kunden hier ihre Cocktails zu 90 Yuan das Glas – plus 15 Prozent Servicezuschlag.

Vor den Fenstern ragt das Shanghai Financial Center in die Höhe. Das andere Wahrzeichen der Stadt, der Fernsehturm „Perle des Ostens" ist auch nicht weit weg. Der Blick schweift über die Hunderte von Wolkenkratzern, über den Huangpu-Fluss mit seinen Brücken und Frachtschiffen. Autos huschen wie Ameisen über die winzigen Straßen.

Die Lilongs sieht man nicht.