05-12-2008 Beijing Rundschau
Wem nützen Mindestlöhne?
von Matthias Mersch

Am Mindestlohn ist noch keine Wirtschaftsordnung gescheitert, das wenigstens lehrt die Erfahrung. Abendland, Morgenland, Kapitalismus und Unternehmensgewinne bestehen fort, auch in Volkswirtschaften, die einen Mindestlohn kennen. Über die Frage, ob ein Mindestlohn den Menschen nützt oder schadet, aber gehen die Meinungen weit auseinander, und dies seit langer Zeit.

Gegenwärtig kennen 150 Staaten der Erde eine Mindestlohnregelung in der einen oder anderen Form, darunter die USA, China, Frankreich und Großbritannien, nicht aber die Schweiz. Im Januar 2007 hatten 20 von 27 EU-Staaten einen staatlich festgelegten Mindestlohn. In den skandinavischen Ländern gibt es aber meist flächendeckende Regelungen durch Tarifverträge, was in geringerem Maße auch für Deutschland gilt. Österreich wird einen Mindestlohn am 1. Januar 2009 einführen, so dass innerhalb der Europäischen Union lediglich Italien und Zypern ohne gesetzliche oder tarifvertragliche Mindestlohnregeln verbleiben.

Die Diskussion um die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland wird seit rund vier Jahren geführt. Wichtige Auslöser für die mitunter heftige Debatte waren der freie Verkehr von Arbeitskräften nach der Osterweiterung der EU und ein Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften, der zu einem Rückgang tarifvertraglich geschützter Arbeitsverhältnisse geführt hat. Die Öffnung des Arbeitsmarktes für Erwerbsfähige aus den östlichen Nachbarstaaten Deutschlands hatte in einer ganzen Reihe von Branchen ein Lohndumping zur Folge. Dies stellte die Wettbewerbsfähigkeit von Handwerksbetrieben in Grenzgebieten ebenso in Frage, wie die Existenzgrundlage zahlreicher ungelernter Arbeitskräfte vor allem im Baugewerbe.

Was angesichts des erheblichen Gefälles bei den Aufwendungen für den Lebensunterhalt in Polen und Deutschland für einen Arbeitnehmer mit Wohnsitz in Polen noch einen akzeptablen Stundenlohn bedeutet, mag für einen Bewohner der Bundesrepublik im Wortsinne ein Hungerlohn sein. In seiner neuesten Fassung vom Dezember 2007 sorgt das Arbeitnehmer-Entsendegesetz für eine gewisse Entspannung der Situation, denn für besonders betroffene Branchen werden darin Mindestlöhne festgesetzt, die für eine Chancengleichheit der Arbeitsuchenden sorgen sollen. Aber natürlich gestaltet sich die Überwachung der Gesetzestreue der Tarifpartner als schwierig, und Versuche, das Lohngefüge zu unterlaufen, sind zahlreich.

Das in Deutschland zunehmende Phänomen der „working poor“, also der Vollzeitbeschäftigten, deren Erlöse aus beruflicher Tätigkeit nicht zur Deckung des Lebensunterhalts ausreichen, weshalb sie auf staatliche Zuwendungen etwa in Form von Wohngeld angewiesen sind, ist eine andere wichtige Quelle für die Debatte um Einführung eines allgemeinen Mindestlohns. Die Gewerkschaften treten mittlerweile unter dem Motto „Arm trotz Arbeit“ fast geschlossen für einen Mindeststundenlohn ein, den sie gerne bei 7,50 EUR fixiert sähen. Dass diese Forderung überhaupt erhoben werden muss, ist nicht nur Zeichen für die enorme Bewegung, in die der westeuropäische Arbeitsmarkt durch Mauerfall und Globalisierung geraten ist, sondern auch Folge des Versagens der Gewerkschaften. Die bislang als eine der Grundsäulen der bundesrepublikanischen Wirtschaftsordnung gefeierte „Tarifautonomie“, also das Recht der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter Sozialpartner auf das freie Aushandeln von Tarifverträgen, bröckelt seit Jahren und wird mittelfristig zu Staub zerfallen. Im Jahr 2006 arbeiteten nur noch 57 Prozent der Beschäftigten in Westdeutschland und nur 41 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten unter den Bedingungen von Tarifverträgen. In den skandinavischen Länder liegt die Quote hingegen bei 90 Prozent. Gleichzeitig ist der Anteil der im so genannten „Niedriglohnsektor“ Beschäftigten - der „working poor“ – nach Angaben der Hans-Böckler-Stiftung auf 32 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten gestiegen.

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