17-10-2008 Beijing Rundschau
Die Entwicklung des ländlichen Raumes -  Probleme und Hoffnungen
von Matthias Mersch

Wer nicht im Staatsdienst unterkam und dennoch blieb, richtete sich oft auf handtuchgroßen Ackerflächen ein und produzierte zu wenig und dies Wenige auch noch zu teuer: 2001 brachten die chinesischen Bauern nur halb so viel Getreide hervor wie Frankreich, während chinesischer Weizen 44 Prozent, Reis 26 Prozent und Mais sogar 67 Prozent über dem Weltmarktspreis lagen. Allerdings sind die zu hohen Kosten der agrarischen Produktion Chinas kein wirkliches Problem. Trotz des Beitritts zur WTO hat sich an der Landwirtschaftspolitik kaum geändert. Warum auch? Die Freihandelsorganisation übt Nachsicht mit einer Politik, die Europas Bauern genauso schützt wie die Bauern Japans und der Vereinigten Staaten. China wird sich bei seiner Subventionierung der Landwirtschaft immer mit vollem Gewohnheitsrecht auf eine ähnliche Praxis berufen können.

Durch die Abschaffung der Bodennutzungssteuer und der Mehrwertsteuer im Jahr 2007 sind die Bauern entlastet worden, was zu einer gewissen Entspannung der Lage der Landbevölkerung vor allem in Ostchina beigetragen hat. Der Westen aber bleibt weiträumig arm, auch wenn sich dort vielerorts die Verkehrsinfrastruktur enorm entwickelt hat.

Menschen, die gehen wollen

Der Wunsch nach einem angenehmeren Leben in der Stadt oder schlicht die Notwendigkeit, für die Ernährung der Familie zu sorgen, treibt seit Jahren ein wachsendes Heer von Wanderarbeitern in die Städte. 150 bis 200 Millionen sollen es inzwischen sein. Für die rasche Entwicklung der Städte vor allem im Bau- und Dienstleistungssektor ist diese Wanderung unverzichtbar gewesen. Noch heute sind diese Arbeitskräfte eine leicht manövrierbare Verfügungsmasse der Wirtschaft. Durch das Hukou-System, das Landbewohnern eine dauerhafte Übersiedlung in die Stadt verwehrt, sind sie zur Illegalität gezwungen. Verständnis für die materiellen und rechtlichen Bedürfnisse der Wanderarbeiter wächst erst allmählich unter der Stadtbevölkerung und in Regierungskreisen. Nach getaner Arbeit sollen sie - wie die Bauarbeiter der olympischen Sportstätten - gefälligst wieder gehen, aber wohin?

Viele betrachten die Möglichkeit der Wanderarbeiter zur Rückkehr in die „alte Heimat" als einen Rettungsanker, der die Versorgung im Alter und bei Krankheit sicherstellen soll. Aber dieser Anker hat nur symbolischen Wert, denn wen die Feldarbeit schon vor seinem Weggang nicht ernähren konnte, wird sie schwerlich bei seiner Rückkehr als Invalide am Leben erhalten können.

Niu Fengrui, Professor an der Zentralen Parteihochschule in Beijing, meint, dass die Verpachtung ungenutzter Flächen den Wanderarbeitern eine Art soziales Sicherungsnetz bieten könne. „Die moderne Entwicklung der Landwirtschaft sei immer deutlicher durch Industrialisierung und Urbanisierung geprägt. In den letzten Jahren kann man beobachten, dass überschüssige ländliche Arbeitskraft in die Städte strömt, die Städte aber meistens damit überfordert sind, die Wanderarbeiter sozial abzusichern."

Die durch das Hukou-System erzwungene Rückkehr oder auch nur die bloße Androhung der Ausweisung hat bislang erfolgreich die Bildung von Slums an den Rändern chinesischer Städte verhindert. Wenn aber die Rückkehr auf das Land durch eine Veränderung der dortigen Besitzverhältnisse dauerhaft unmöglich gemacht wird, kann das Festhalten am Hukou-System zur Slumbildung beitragen. Ganz abgesehen davon, dass sich mangelnde Freizügigkeit bei einer weiteren Liberalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse kaum aufrechterhalten lassen wird. Den Menschen müssen also in jedem Fall echte Alternativen angeboten werden.

Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeit: die Entwicklung des ländlichen Raumes oder - freie Ortswahl durch die Betroffenen vorausgesetzt - die dauerhafte Ansiedlung der überschüssigen ländlichen Arbeitskraft in den Klein-, Mittel- und Großstädten. Die europäische Erfahrung lehrt, dass Ersteres weit schwieriger zu bewerkstelligen ist als die Integration der Landflüchtigen in das Leben der Städte: Die europäische Großstadt ist ausnahmslos das Produkt der enormen Wanderbewegungen zum Höhepunkt der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Zur Integration der Wanderarbeiter in die Städte bedarf es heute in China aber eines Marktes fester und einträglicher Arbeitsverhältnisse und der Aufnahme der neuen Stadtbürger in das System der Sozialversicherung. Es wird kaum genügen, sie lediglich in Hochhäuser zu verpflanzen, wie sich Zeng Yesong, ebenfalls Professor an der Parteihochschule in Beijing, dies vorzustellen scheint: „Durch die Ansiedlung von freigesetzten ländlichen Arbeitskräften in städtischen Hochhaussiedlungen kann eine bedeutende Menge an Ackerland gewonnen werden. Dieser Strukturwandel deckt den Bodenbedarf der Urbanisierung und bekämpft zugleich auf effiziente Weise die Armut." Diese Worte klingen nach einer „schönen neuen Welt" in der ein kluger Plan mit einem Schlag alle Strukturprobleme löst. Aber gerade da ist Vorsicht geboten: „Social Engineering" ist regelmäßig dort auf dramatische Weise gescheitert, wo der Wille der Planer nicht mit den Bedürfnissen und dem Alltagsleben der Menschen harmonierte.

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