16-06-2008 Beijing Rundschau Fußspuren am Jangste von Matthias Mersch
Die beiden Damen sind Zeitgenossen Ihrer Großeltern gewesen. Frau Yang erzählt von ihren Erinnerungen an die Revolution von 1911 in Chengdu. Wie sehen Sie die Tätigkeit Ihres Großvaters in China? Mein Großvater war nach seinem Studium sehr jung nach China gekommen, 1899 war er zunächst im Zolldienst in Qingdao im deutschen Pachtgebiet tätig. Schon ein Jahr später wechselte er ins Auswärtige Amt und war in verschiedenen deutschen Konsulaten als Übersetzer tätig. 1905 wurde er nach Südwestchina versetzt. 1911 kam seine Ernennung zum Konsul mit Dienstort Chengdu. Während eines Deutschlandurlaubs im gleichen Jahr lernte er meine Großmutter Hedwig Sonnenburg kennen. Sie verlobten sich und heirateten sehr schnell, und sie begleitete ihn aus Abenteuerlust nach China. Ihre Reise von Shanghai, wo die beiden im September 1911 anlangten, die Flussfahrt den Jangste hinauf und dann teils über den Landweg bis nach Chengdu zeichnet mein Film nach. Im April 1912 kamen sie dort an, die politischen Verhältnisse hatten sich in der kurzen Zeit seiner Abwesenheit grundlegend verändert: das chinesische Kaiserreich war untergegangen und auch das deutsche Kaiserreich sollte ja bald nicht mehr existieren. 1914 zogen sie nach Kunming, wo er das deutsche Konsulat gründete und leitete. Yunnan war damals ein Einflussgebiet der Franzosen, und Indochina ist sehr nah. Seine Arbeit zielte also darauf, gegen die Kolonialherrschaft Frankreichs in Südostasien zu arbeiten, nicht aus Liebe zur Freiheit der Völker, sondern weil Frankreich der Hauptgegner in Europa war. Die vielen Konsulatsgründungen des Deutschen Kaiserreichs am Vorabend des Ersten Weltkriegs waren in Konkurrenz zu England und Frankreich geschehen. Konkurrenz im politischen, aber auch im wirtschaftlichen Sinne. 1917 erklärte China Deutschland den Krieg und meine Großeltern mussten das Land verlassen.
Wie ging es für sie weiter? Sind sie jemals nach China zurückgekehrt? Sie wollten immer nach China zurückgehen, ihren Kindern und Enkeln erzählten sie immer voller Begeisterung über das Land! Aber es ist ihnen nicht gelungen. Längere Zeit haben sie in Äthiopien gelebt, dort ist auch mein Vater geboren, Ende der 20er Jahre sind sie nach Deutschland zurückgekehrt. Dann hat mein Großvater noch ein paar Posten in Südamerika angetreten. Nach Hitlers absurder Einteilung waren meine Großeltern „Halbjuden", beide hatten jüdische Mütter. 1934 wurde mein Großvater aus dem Staatsdienst entfernt. Erst haben sie versucht, im Ausland zu leben, aber die Pension wurde nicht nachgeschickt. So kehrten sie 1936 aus Spanien nach Deutschland zurück und überlebten im Land die Nazizeit. Mein Großvater ist 1955 gestorben, da war ich fünf Jahre alt. Ich erinnere mich an ihn, aber nur wenig. Ganz anders bei meiner Großmutter: sie starb erst 1975 und hat mir viel über China und ihre Reisen erzählt. Sie war journalistisch tätig und hat einige Bücher veröffentlicht, darunter einen Band mit Kurzgeschichten, der von Emil Orlik illustriert wurde. Sie hat zwei Kinderbücher geschrieben, die in China spielen: „Der kleine Chinese Li" und „Die Pflaumenblüte und Kai Lin". Die Geschichte des kleinen Li ist erstmals in der 30er Jahren erschienen, Ende der 40er Jahre ist er noch mal in der DDR aufgelegt worden. In der Bundesrepublik ist Li in den 50er und 60er Jahren erschienen, Kai Lin Ende der 50er Jahre.
Dann war Ihre Großmutter genau wie deren chinesische Zeitgenossin Zhang Zhenhua eine Intellektuelle? Meine Großmutter hat nicht studiert, sie hat sich keinen eigenen Beruf gewählt, im Grunde hat sie sich erst durch ihre Heirat die Welt erschlossen. Erst durch das Schreiben kam sie zu einem Beruf. Ich glaube, Frau Zhang hat mehr kämpfen müssen, für ihren Doktortitel, für das Recht, überhaupt zur Schule gehen zu können. Insofern hat sie es schwerer gehabt als meine Großmutter und ist zugleich selbständiger gewesen. In den Kinderbüchern meiner Großmutter werden Chinesen sehr liebevoll gezeichnet, aber sie hatte wenig freundschaftlichen Umgang mit Chinesen. Der Kontakt beschränkte sich auf das Personal und die offiziellen Empfänge der chinesischen Honoratioren vor Ort. Freundschaften hatte eher mein Großvater gepflegt, aber hauptsächlich zu Zeiten der Qing-Dynastie, weniger zu Beamten der Republik. Meine Großmutter war für die Chinesinnen der Chengduer Gesellschaft natürlich eine Exotin: mit hässlichen großen Füssen und unlackierten Fingernägeln. Aber wenn ich an die beiden alten Damen in meinem Film denke, ist es nicht so, dass es keine Berührungspunkte zwischen diesen beiden Welten hätte geben können. Biographische Notiz Tamara Wyss, geboren 1950. Von 1970 bis 1974 Ausbildung an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin. Freiberufliche Filmemacherin, Kamerafrau, Cutterin und Dozentin in Deutschland und Großbritannien. 1978 Preis des Internationalen Dokumentarfilmfestivals Leipzig für Die landwirtschaftliche Kooperative von Santana. 1998-2004 entsteht der Film Die chinesischen Schuhe (104 Min.). Erhältlich im Verleih der Pifflmedien (www.pifflmedien.de ) und über den DVD Vertrieb www.goodmovies.de
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