12-09-2013
International
Serie: Wer will die Nummer zwei sein?(Teil 1)
von Kerry Brown

Seit Ende des Kalten Krieges in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren gelten die USA gemeinhin als die einzige Supermacht der Welt. Das beruht auf zwei unbestreitbaren Tatsachen. Da ist erstens ihre Wirtschaft, die zu dieser Zeit absolut dominant war und rund ein Viertel des weltweiten BPI ausmachte. Zweitens ist ihre Militärmacht zu nennen. Die USA besitzen Landstreitkräfte, Marine und Luftwaffe, um ihre Macht gegen den Rest der Welt zu verteidigen. Sie geben mehr für ihre Verteidigung aus als die nachfolgenden zehn Länder zusammen. Sie dominieren in Technologie und Leistungsfähigkeit. Sie sind in der Lage, in Sicherheitsfragen überall in Europa, Asien, Australien und Afrika involviert zu werden. Es ist die einzige Macht mit diesem globalen Einfluss.

Der Niedergang der USA

In den zehn Jahren nach der Tragödie vom 11. September 2001 wurde die Dominanz der USA allerdings in Frage gestellt. Zwei kostspielige Kriege im Irak und in Afghanistan, die länger als erwartet dauerten und deren politische und wirtschaftliche Resultate komplexer als erwartet waren, haben das Land herausgefordert. Präsident Obama machte bei seiner Wahl im Jahr 2008 klar, dass er einen phasenweisen Abzug aller US-Truppen aus Afghanistan, der letzten andauernden von US-Truppen geleiteten Militäraktion, wünschte. Das soll 2015 geschehen. Außerdem befand sich die US-Wirtschaft wegen der 2007 zu Tage tretenden Subprime-Krise unter enormem Druck, was den Finanzsektor und die Exporte in den kommenden zwei Jahren stark schwächte. 

Im Jahr 2012 und im ersten Halbjahr 2013 hat sich in den USA wieder ein stabiles Wachstum eingestellt, in diesem Jahr ist das Wachstum wahrscheinlich sogar höher als erwartet. Während eines Treffens mit Chinas Vizepremier Wang Yang beim Chinesisch-Amerikanischen Strategie- und Politik-Dialog im Juli in Washington gab US-Vizepräsident Joe Biden allerdings zu, dass die Wirtschaft aufgrund hoher Schulden und der anhaltenden Notwendigkeit, Arbeitsplätze zu schaffen und die Produktion zu stützen, immer noch vor großen strukturellen Herausforderungen stehe.

Kommentatoren sprechen gerne von einer Ära des amerikanischen Niedergangs, und dass es mittlerweile eine bi- oder tripolare Welt gebe. 2009, vor allem während es G20-Gipfels in London und vor Präsident Obamas Besuch in China im November dieses Jahres, sprachen manche gar von einem G2-Gipfel mit China als zweitmächtigstem Land der Welt. Vieles davon beruhte auf der Tatsache, dass China in den vergangenen fünf Jahren zur zweitmächtigsten Wirtschaftsmacht der Welt und zu einer der Hauptquellen des globalen Wachstums geworden war. Daher erscheint es natürlich, China eine bessere und prominentere Position im globalen Ranking zuzuordnen.

 Chinas politische Führer betonten zu dieser Zeit jedoch gerne, dass sie einen G2-Gipfel weder anerkennen, noch anstreben würden. Viele von ihnen betonten, dass China weiterhin ein Land mit einem Pro-Kopf-Einkommen sei, das in globalen Rankings eher Rang 100 entsprechen würde. Warum sollte es also die gegenwärtige Rolle der USA übernehmen wollen? Seine Prioritäten lagen weiterhin auf inneren Angelegenheiten wie Wachstum, Nachhaltigkeit und ausgeglichenen Bilanzen.

Die Nummer zwei zu sein, ist in keinem System leicht. Es herrscht immer Argwohn darüber, dass zweitplatzierte Mächte oder Personen den Ehrgeiz hegen, die Nummer eins in Zukunft von ihrem Platz zu verdrängen. Es gibt ein natürliches Empfinden dafür, dass niemand für immer in der Top-Position bleiben kann, und eine inhärente Neigung, die Top Player nach ihrem ruhmreichsten Moment zu stürzen. Viele fürchten, dass dieser Niedergang mit Unruhen, Spannungen und Konflikten einhergehen könnte, so wie es der Fall war, als Großbritannien Anfang des 20. Jahrhunderts durch Deutschland und dann die USA ersetzt wurde, ein Ereignis, das Konflikte in Europa entfesselte, die zu zwei Weltkriegen führten. Die Welt kann die Kosten für einen derartigen Machtwechsel nicht tragen. Das zumindest scheint klar.

 

 Eine multipolare Welt

Aus diesem Grund scheint es lohnenswert, die Diskussionen über eine multipolare Welt vom Anfang des Millenniums noch einmal genauer zu betrachten. Die zwei klaren und starken Einflusspole aus der Ära des Kalten Krieges, die Sowjetunion auf der einen und die USA auf der anderen Seite, erscheinen heute eher als Irrtum, denn als Standardmodell. Vor und nach diesem absolut bipolaren Zeitpunkt war die Situation wesentlich unklarer. Einige Mächte waren im Bereich Handel dominant, andere in militärischer Hinsicht, andere hatten diplomatischen und politischen Einfluss. In einer Ära beschleunigter und vertiefter Globalisierung, in der Flache-Erde-Technologien (flat earth technologies) und Freihandelsabkommen die nationalen Grenzen aufweichen, macht es da Sinn, von dominierenden Staaten zu reden, die die künftige Ausrichtung der Welt diktieren? In diesen Bereichen scheint es nun viel mehr Wettbewerb zwischen den einzelnen Staaten zu geben.

Es wird im Hinblick auf die Natur möglicher künftiger Gefahren immer wichtiger, den Fokus auf globale, statt auf nationale Prioritäten zu legen. Die meisten sind sich darüber einig, dass die Welt wahrscheinlich nicht unter der Gewalt der Massen zusammenbrechen wird wie im vergangenen Jahrhundert. Der US-Wissenschaftler Stephen Pinker spricht in seinem Buch "The Better Angels of our Nature" von der allgemein verbreiteten Abnahme der Gewalt als Mittel zur Beilegung von Differenzen in der modernen Welt. Der Schrecken des Zweiten Weltkriegs war so gewaltig, dass sich Staaten darin einig waren, dass er, neben einer garantierten Vernichtung durch einen Atomkrieg, gegen jede große Mobilmachung in der Zukunft sprach. Die gegenwärtigen Gefahren resultieren aus einem örtlich begrenzten Terrorismus, aus Hungersnöten und, das ist am verstörendsten, aus den Auswirkungen des Klimawandels. Sie halten sich nicht an die Geographie und sind nur mit globalen Maßnahmen lösbar. Selbst Supermächte können sich nicht von den Auswirkungen dieser Probleme freimachen.

Es ist unwahrscheinlich, dass es in naher Zukunft eine vereinte Weltregierung gibt, die auf diese globalen Risiken eine Antwort hat, genauso wie es wenig wahrscheinlich ist, dass nationale Staaten langsam verschwinden werden. Aber es wird grundverschiedene Arten geben über Nationen und ihre Rolle in der Welt nachzudenken. Die absolut unterschiedlichen Visionen von Wirtschaftsstrategien und Regierung, die die Sowjetunion und die USA hatten, um sich voneinander zu unterscheiden, existieren nicht länger. Die meisten Regierungen sind sich einig, dass sie ein nachhaltiges Wachstum bieten müssen und dass sie eine Politik brauchen, die die Menschen in ihrem Wunsch nach dem bestmöglichen modernen Leben unterstützt.

Dieses gemeinsame kollektive Verständnis von Entwicklung bedeutet, dass China in den kommenden zehn Jahren aller Wahrscheinlichkeit nach die größte Wirtschaftsmacht der Welt werden wird, die USA aber weiterhin militärisch und politisch dominant bleiben werden. Das Pro-Kopf-Einkommen und ihr Netz globaler Allianzen werden stark bleiben. Aus diesem Grund wird eine harmonische und wechselseitig produktive Beziehung zwischen den USA und China die Schlüsselbeziehung der absehbaren Zukunft sein. 

Rund um diese Schlüsselbeziehungen wird es eine Reihe weiterer Nationen geben, die aus verschiedenen Gründen ebenfalls alle enorm wichtig sind, Russland wegen seiner immensen Ressourcen, die EU wegen der Größe ihres Marktes, Brasilien und Indien wegen ihrer Bedeutung als Schwellenländer. Wir müssen uns von der Idee verabschieden, dass es eine klare Nummer eins und zwei gibt, und wir ein globales Ranking brauchen. Für die Bedeutung eines Landes wird seine Wirtschaftsmacht wichtig sein aber nicht der einzige Faktor. Es wird andere Arten geben, auf die Länder wie Australien wegen ihrer strategischen Lage und ihres Einflusses auf globale Umweltthemen eine wichtige Rolle spielen werden.

Die EU-Finanzkrise hat die Welt in den letzten Jahren daran erinnert, dass, obwohl große Länder alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen, die kleineren niemals vernachlässigt werden sollten. Die Krise in der EU-Zone wurde nicht in Deutschland, Frankreich oder England, sondern in Griechenland verursacht. Im Kampf gegen die Schulden hat einer der kleinsten Mitgliedsstaaten der EU die Aufmerksamkeit der gesamten 27 (seit dem Beitritt Kroatiens 28) Mitglieder auf sich gezogen. Ein System, das in der Lage ist, alle Stimmen zu hören und den Interessen kleinerer Länder Aufmerksamkeit zu schenken, ist ungeheuer wichtig. In diesem Sinn ist die multipolare Welt, auf die wir uns zu bewegen, auch eine sicherere. Eine Welt, die nur eine oder zwei Supermächte im Blick hat, ist unaufmerksam und abgelenkt und das kann nicht gut sein.

(Der Autor ist Kommentator bei der Beijing Review und Geschäftsführer des China Studies Center an der Universität von Sydney)