Anfang August verkündete Deutschland seine besten Wachstumszahlen seit einem Jahrzehnt. Im zweiten Quartal 2010 wuchs das deutsche BIP um 2,2 Prozent. Einige Analysten erwarten für das ganze Jahr über drei Prozent Wachstum. Der deutsche Export bleibt dabei weiterhin robust.
Während andere Industrienationen ihren Export nach oben fahren wollen, hat Deutschland dieses Ziel schon erreicht – und bleibt damit Vorbild. Qualitativ hochwertige Hightech-Produkte aus dem Bereich Maschinenbau sowie Autos und Autoteile sind weiterhin das Rückgrat der deutschen Warenausfuhr. Die Financial Times rechnete in einem Porträt der deutschen Wirtschaft am 16. August vor, dass rund ein Viertel des deutschen BIP auf klassische Industrieproduktion zurückgeht. In Großbritannien liegt der Anteil unter 17 Prozent. Während andere EU-Staaten sich in den letzten zwanzig Jahren auf den Ausbau von Dienstleistungen konzentriert haben, setzt Deutschland nach wie vor auf eine ausgewogene Mischwirtschaft.
Deutschlands Rolle im Herzen Europas ist immer von entscheidender Bedeutung gewesen. Seit dem frühen 20. Jahrhundert ist Deutschland Europas größte Volkswirtschaft. Nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg baute Westdeutschland seine Industrie vor allem mit Hilfe von Geldern aus dem Marshallplan rasch wieder auf. Es mag ironisch wirken, dass ausgerechnet die westlichen Staaten, die Deutschland im Krieg besiegt hatten, dem Land wieder zu einer starken Wirtschaft verhelfen wollten. Aber sie hatten ihre Lehren aus den Folgen des Ersten Weltkriegs gezogen. Damals wurde Deutschland, so beschrieb es der Ökonom John Maynard Keynes, der an den Friedensverhandlungen von Versailles teilnahm, zu untragbaren Reparationszahlungen gezwungen. Dies schwächte die deutsche Wirtschaft und trug so zu einem sozialen Klima bei, von dem die Nationalsozialisten profitieren konnten. Deshalb sahen die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs eine erfolgreiche deutsche Wirtschaft als unverzichtbar für Stabilität und Frieden in Europa an. Die letzten sechseinhalb Jahrzehnte geben ihnen Recht.
Die Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland 1989 lud der deutschen Wirtschaft vorübergehend große Lasten auf, galt es doch, die Planwirtschaft auf dem Gebiet der ehemaligen DDR in eine freie Marktwirtschaft zu überführen. Doch in den 1990er Jahren nahm die Wirtschaft wieder Fahrt auf und wurde schon bald zur größten Volkswirtschaft Europas. Ihre große Stärke war und ist die Fertigungsindustrie. Autohersteller wie BMW und Audi, Maschinenbauer wie Siemens und Bosch machten Deutschland zur größten Exportnation der Welt. Der Export ermöglichte es auch, dass die deutschen Arbeiter umfassend sozial abgesichert wurden.
Als Produzent und Exporteur schuf Deutschland eine stabile Beziehung zu China. Deutsche Firmen waren unter den ersten, die nach Beginn der Öffnungspolitik 1978 nach China kamen. Und sie gehörten zu den erfolgreichsten. Volkswagen errichtete eine große Joint-Venture-Fabrik in Shanghai. Benz und BMW gehörten schnell zu den beliebtesten Autoherstellern der in den chinesischen Küstenregionen entstehenden Oberschichten.
Ich erinnere mich noch gut, wie ich in den frühen 2000ern als Referent der Handelsabteilung der britischen Botschaft durch China reiste und mich fragte: Wie haben die Deutschen das geschafft? Ihre Technologie wurde bewundert, ihre Effizienz war berühmt und ihre Fähigkeit legendär, in China ohne politische Probleme zu arbeiten. Obwohl Großbritannien der größte EU-Investor in China war, waren die deutschen Firmen deutlich im Vorteil. Wir konnten noch so viel Werbung machen: An der Vorliebe der Chinesen für deutsche Firmen gab es nichts zu rütteln.
Dabei hatten die Deutschen in den letzten zehn Jahren durchaus Probleme gehabt: Die Arbeitslosigkeit lag durchgängig bei fast zehn Prozent. Versuche der Politik, den ausufernden Sozialstaat einzudämmen, stießen auf heftigen Widerstand, zum Beispiel bei den Gewerkschaften. Die globale Wirtschaftskrise traf Deutschland genauso hart wie alle anderen europäischen Länder. Und als im Mai die griechische Wirtschaft am Abgrund stand, erwarteten die anderen Mitglieder der Eurozone, dass Deutschland den Karren aus dem Dreck ziehen würde.
Trotz der imposanten Wachstumszahlen in diesem Jahr ist die Koalitionsregierung von Bundeskanzlerin Angela Merkel zunehmend unbeliebt, da sie wie Großbritannien, Frankreich und neuerdings sogar die USA, ein rigides Sparpaket auflegen will. Merkel, eine der angesehensten politischen Führungsfiguren innerhalb der EU, hat außerdem mit wachsenden Problemen zu kämpfen, seit einer ihrer engsten Verbündeten, Bundespräsident Horst Köhler, vor einigen Monaten zurücktrat. Christian Wulff wurde im Juni zu dessen Nachfolger gewählt, allerdings sehr knapp, was für die Regierung ein peinlicher Vorgang war. Zudem regt sich Zorn wegen der angekündigten Einschnitte in das soziale Netz. Groß ist die Unzufriedenheit der Bevölkerung über die Höhe der Beträge, die Deutschland zur Griechenlandrettung zur Verfügung stellt – obwohl der Internationale Währungsfonds und andere Partner ebenfalls zahlen.
Ökonomen halten die enge Verbindung zwischen der deutschen Exportwirtschaft und China für ein zweischneidiges Schwert. Während die EU insgesamt ein riesiges Außenhandelsdefizit gegenüber China aufweist, ist Deutschland eines der wenigen Länder, die beinahe so etwas wie eine ausgeglichene Handelsbilanz mit der Volksrepublik haben. Ein Drittel der deutschen Autoproduktion wird nach China verkauft, deutsche Maschinen finden hier reißenden Absatz. Aber zu große Abhängigkeiten sind genauso bedenklich wie ein zu geringes Handelsaufkommen. Sollte die chinesische Nachfrage einbrechen, würde dies das deutsche Wachstum empfindlich treffen. Und es gibt derzeit nur wenige Märkte, in die Deutschland alternativ exportieren könnte.
Es stellen sich auch Fragen in einem breiteren politischen Zusammenhang. Was bedeutet eine starke deutsche Wirtschaft für Europa? Und was bedeutet sie für Chinas Beziehungen zur EU? Die EU begann als Handelskooperation in den 1950er Jahren. Aber die Vision ihrer Gründungsväter wie Jean Monnet war ehrgeiziger. Sie wussten, dass Europa sich einen weiteren zerstörerischen Krieg nicht mehr leisten konnte. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren Millionen von Menschen getötet und die Wirtschaft zerstört worden. Europa sollte nie mehr zum Schauplatz von Kriegen werden, dies war die Ursprungsidee für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und später für die Europäische Union.
Dieses Ziel wurde in den letzten 65 Jahren erreicht. Durch Erweiterungen ist die EU von ursprünglich neun auf zunächst 15 und heute 27 Mitgliedstaaten angewachsen. Die Frage einer türkischen Mitgliedschaft wird gegenwärtig kontrovers diskutiert. Erst im vergangenen Jahr wurde der Lissabon-Vertrag endgültig ratifiziert. Er soll einer gemeinsamen Außenpolitik Vorschub leisten. Die EU-Mitgliedstaaten sowie alle anderen Länder auf dem europäischen Kontinent erleben derzeit die wohlhabendste, konsolidierteste und erfolgreichste Zeit in ihrer langen Geschichte. Zu den Stärken der EU zählt es, dass sie einzelnen Nationalstaaten ermöglicht, Eigeninteressen gegen die Vorteile aufzuwiegen, die ihnen aus der Mitgliedschaft in einer größeren Gemeinschaft erwachsen. Trotz aller bestehenden Probleme ist dies ein bemerkenswerter Erfolg.
Doch dieser Erfolg fordert seinen Preis. So ist zum Beispiel der Einigungsprozess nur dann erfolgreich, wenn die großen EU-Mitgliedstaaten bereit sind, zu Gunsten der kleinen Staaten nachzugeben. Wenn es um die Verteilung der Subventionen durch die EU-Verwaltung geht, zahlen Großbritannien, Frankreich und Deutschland deutlich mehr ein, als sie wieder herausbekommen – Deutschland mit Abstand am meisten. Das Land ist ein bedeutender Nettozahler der EU. Der Umgang innerhalb der EU wird schwierig, wenn ein Staat ökonomisch, und damit fast immer politisch, zu dominant wird. Derzeit muss Großbritannien mit einem Haushaltsdefizit von 12 Prozent kämpfen. Frankreich streitet sich derweil um Gewerkschaftsrechte, Zuwanderung und den öffentlichen Dienst. Spanien leidet unter einer Arbeitslosenquote von 20 Prozent. Vor diesem Hintergrund wird die deutsche Dominanz zunehmend sichtbar.
Es gibt viele Gründe, warum Deutschlands Erfolg von den anderen EU-Staaten gefeiert werden sollte. Sein Wachstum wirkt wie ein Dynamo für den Rest der Gemeinschaft und die Eurozone. Aber es fällt auch vielen Deutschen auf, dass sie überdurchschnittlich viel in die Gemeinschaft einzahlen – und dass dies einen Zuwachs an Macht bedeutet. Das macht die anderen EU-Partner nervös. Die EU funktioniert üblicherweise nach dem Prinzip, dass die wichtigsten Mitgliedsstaaten ihre Kräfte austarieren. Wenn ein Partner zu stark wird, schafft dies Probleme. Die deutsche Wut auf die Griechenlandhilfe machte dies deutlich. Viele Wähler fragen, warum ihre Steuergelder eigentlich eine Regierung retten sollen, die ihren öffentlichen Sektor viel zu stark aufgeblasen hat.
Für China folgen daraus andere Fragen. Die chinesische Regierung muss unterschiedliche Politikziele in Einklang bringen – zum einen die Beziehungen zur gesamten EU, zum anderen die zu den einzelnen Mitgliedstaaten. Dies wird zunehmend schwerer. Gelegentlich wird deutlich, dass es China recht wäre, wenn die EU-Staaten enger zusammenarbeiten würden. Aber während der Wirtschaftskrise und der G20-Beratungen musste China wieder verstärkt bilateral mit Ländern wie Frankreich, Italien, Deutschland oder Großbritannien verhandeln – denn einen EU-weiten Konsens gab es nicht. China sähe es als Vorteil, mit einem geschlossenen Staatenblock verhandeln zu können, doch die Unfähigkeit der EU, sich auf eine gemeinsame Position festzulegen, ist in diesem Zusammenhang oft frustrierend. Der Vertrag von Lissabon hat dieses Problem noch nicht gelöst.
Deutschland ist ein wichtiger Lieferant für die fortgeschrittenste Technologie der Welt. Das ist wichtig für die Chinesen. Städte wie Hamburg haben durch ihre logistische Schlüsselstellung viele chinesische Investoren angezogen. Es gibt direkte Flugverbindungen zwischen Frankfurt und Berlin und einer Vielzahl chinesischer Städte. Die Handelsbeziehungen der beiden Länder bleiben wichtig, auch wenn Großbritannien Deutschland im vergangenen Jahr als größtes Zielland für chinesische Auslandsinvestitionen abgelöst hat. Die anderen EU-Mitgliedstaaten müssen die deutsche Herausforderung annehmen, anstatt sich zu beschweren oder Ängste zu hegen. Eine neue Ära des Wettbewerbs hat begonnen, in der Industrienationen neue Wachstumsquellen finden müssen. Sie konkurrieren nicht nur untereinander, sondern auch mit Zukunftsmärkten wie Indien, China und Brasilien. Viele Vorteile, die sie früher einmal hatten, haben sie verloren – und diese werden auch nicht zurückkehren. Deutschland aber zeigt, dass sich Investitionen in Bildung, Forschung und Hightech-Entwicklung auszahlen. Seine Nachbarländer müssen die Herausforderung annehmen und dem Land Konkurrenz machen, indem sie aus der deutschen Erfolgsgeschichte lernen.
Großbritannien hat bereits festgestellt, dass seine Unternehmen in China unterrepräsentiert sind. Das große Konsumpotenzial der neuen chinesischen Mittelklasse oder anderer Bevölkerungsschichten ist noch lange nicht ausgeschöpft. Deutschland zeigt, dass dies mit den richtigen Produkten und der richtigen Herangehensweise gelingen kann. Die EU muss aufhören, sich darum zu sorgen, dass ein Mitglied zu stark werden könnte. Stattdessen gilt es, die Ärmel hochzukrempeln, damit alle Mitgliedsstaaten ihre Chancen nutzen können. Es heißt, dass Imitation die höchste Form der Anerkennung sei. Es ist jetzt an der Zeit, dass die anderen EU-Staaten Deutschland imitieren – und seinem Erfolg nacheifern.
Die Meinung des Verfassers spiegelt nicht notwendig die Meinung der Redaktion der Beijing Rundschau wider. |