12-02-2010 Beijing Rundschau
Papiertiger und andere Streifenträger
von Matthias Mersch

 

Der Tiger ist das männliche Tierkreiszeichen par excellence. So gar nichts Weibliches scheint in ihm zu stecken: das elegant Katzenhafte seiner kleineren Cousinen ist verwandelt in Wildheit und Kraft, ihr spielerisches Schlagen mit der Tatze gesteigert zu einem tödlichen Hieb mit der Pranke. Auch die kühnsten Dompteure bekommen den Tiger nie ganz in den Griff. Ihn in den Tank zu packen, war nur ein törichter Werbespruch der Mineralölindustrie in den sechziger Jahren, fernab jeder Realität. Ein Tiger dient nicht, schon gar nicht dem runden Schnurren eines Ottomotors! Er ist sein eigener Herr, eben ein Herr, niemals eine Dame.

Wie könnte man es dem chinesischen Mann also verdenken, dass er vor einer Tigerin als Ehefrau noch während der Brautschau die Flucht ergreift? Die Heiratsaussichten eines Mädchens, das unter diesem Zeichen geboren war, gingen im alten China gegen Null. Als zu fordernd und verzehrend galt ihr Charakter, der Ehemann hatte keine Aussicht auf demutsvolle Harmonie in der Ehe. Hua Mulan muss wohl eine Tigerin gewesen sein, da ihr Kämpfertum auf Kosten der romantischen Liebe ging. Tiger sind keine Romantiker, sondern Generäle. Welcher Mann also wollte sich zutrauen, einen Tiger zu bändigen?

 

Tiger und Mythos 

Jenseits der Niederungen des Alltags chinesischer Ehen, sozusagen in planetarischer Perspektive, ist der Himmelblaue Drache der Herr des Ostens, der Zinnoberrote Phönix der Herr des Südens, der Weiße Tiger der Herr des Westens und der „Schwarze Kämpfer" der Herr des Nordens. Hinter diesem martialischen Namen verbirgt sich die ansonsten gutmütige Schildkröte, die in China nicht anders als in Indien das Symbol des Universums ist: die Kuppelgestalt des Panzers steht für das Himmelszelt, der flache Bauch des Tieres für die rechteckige Erde, die auf dem Wasser treibt.

Das Symbol des Kaisers ist der Drache, das der Kaiserin der Phönix, und die Feldherrn sind mit dem Emblem des Tigers geschmückt. Das Ansehen des Militärs war im alten China nicht sehr groß, kein Vergleich zur Hochachtung, die ein Zivilbeamter genoss. Der Soldat ist ein Werkzeug für die Ausübung der Macht, aber nicht aus sich heraus ein Mächtiger. Das Tierreich ist in dieser Hinsicht einfacher organisiert: dort ist der Tiger König, das Schriftzeichen „Wang" ist ihm auf die Stirn geschrieben. Der Respekt, mit dem ihm fast alle unter den Menschen und Tieren begegnen, beruht zum größten Teil auf Furcht.

 

Als Reittier kommt der Tiger nur für besondere Menschen oder im Ausnahmefall in Betracht. Das Sprichwort lehrt, dass es sogar noch schwieriger sei, seinen Rücken zu verlassen, als ihn zu besteigen: qihu nan xia 骑虎难下Wer den Tiger reitet, hat es schwer, abzusteigen.

Zhao Gongming, Respekt einflößender General und einer der Götter des Reichtums, reitet auf einem schwarzen Tiger. Ein Tigerreiter ist auch der Himmelsmeister Zhang Daoling, der aus dem Taoismus eine Religion machte und auf den Gipfeln des Longhushan wohnte, dem „Drachen-Tiger-Gebirge" im heutigen Jiangxi. Die meisten anderen Ritte auf dem Tiger sind kurzfristiger Natur und meist aus dem Mut der Verzweiflung geboren, oder sie verdanken sich dem Einfluss von Alkohol. Allerdings kann man sich gar nicht so viel Mut antrinken, um nicht doch bei der Begegnung mit einem leibhaftigen Tiger schlagartig nüchtern zu werden. So geschah es Wu Song, einem Helden aus dem klassischen Roman „Die Räuber vom Liangschan Moor". Die unerwartete Begegnung, die für den Tiger tödlich, für Wu Song aber ruhmreich endete, brachte ihm immerhin einen Posten als Polizeichef ein.

Yang Xiang, die Vierzehnjährige, rettete in uralter Zeit im Wortsinne ihren Vater aus den Fängen eines Tigers, indem sie dessen Hals umschlang und ihn solange würgte, bis er von ihrem Vater abließ und in Ohnmacht fiel, so dass Vater und Tochter fliehen konnten.

 

Konfuzius und seine Schüler trafen im Taishan-Gebirge eine Frau, die bitterlich an einem Grabe weinte. Angesprochen auf die Ursache ihrer Trauer antwortete sie, dass ihr Schwiegervater von einem Tiger getötet worden sei, dann ihr Mann und schließlich habe sie noch ihren Sohn an einen Tiger verloren. Konfuzius betrübte sich und fragte die Frau, warum sie nach diesen schrecklichen Erfahrungen diesen Ort nicht längst verlassen hätte. „Aber hier herrscht keine Tyrannei, die Menschen sind frei!", entgegnete sie.

Konfuzius wandte sich an seine Schüler: „Behaltet dies im Gedächtnis: Gewaltherrschaft ist schlimmer als ein Tiger!"

 

Reißer und Retter 

Erzählungen dieser Art verraten etwas über die reale Gefahr, die von Tigern ausging, besonders dann, wenn sie – alt geworden und untauglich, sich den Lebensunterhalt selbst zu erjagen - aus den Bergen und Wäldern kamen, um in der Nähe der menschlichen Siedlungen nach leichter Beute zu suchen. 

Der Tiger ist zugleich die Quelle der Gefahr und das Mittel ihrer Abwehr. Gift und Gegengift in einem. Ein Amulett in Gestalt einer Tigerpranke gewährt Schutz in allen Lebenslagen. Kinder werden in Tigerkostüme gesteckt, auch das schützt. Tiger aus Holz, in Tempeln aufgestellt, dienen der Abwehr von bösen Geistern. Hing früher noch ein echtes Tigerfell über dem Altar, so verstärkte dies die Schutzwirkung.

Die Meinung, dass Tiger Schutz bieten, stammt von einer mythischen Erzählung, die von zwei Brüdern handelt. Sie hausten unter einem Pfirsichbaum, der so groß war, dass die ausgestreckten Arme von fünftausend Männern den Stamm nicht umfassen konnten. In ihrer Rolle als Beschützer der Menschheit fingen sie Dämonen und warfen sie Tigern zum Fraß vor. Denen schmeckten besonders gut Geister, die Verstorbenen zusetzten, deshalb findet man auf Grabmalen oft Tigerbilder, sie dienen dem Schutz der Toten. Aber es heißt auch, dass die Seele eines Menschen, der vom Tiger gefressen wurde, selbst zu einem Dämon wird, der durch die Gegend irrt und nicht den Mut aufbringt, von einem neuen Körper Besitz zu ergreifen. Stattdessen dient er oft dem Tiger als Sklave und kundschaftet für ihn beispielsweise Tigerfallen aus. Auch wird berichtet von Menschen, die sich in Tiger verwandeln, oder sind es in Wirklichkeit Tiger, die sich in Menschen verwandeln?

 

Papiertiger und Fototiger

Zum Fest des Erwachens der Insekten, zwei Wochen vor der Frühjahrstagundnachtgleiche, schmücken in Südchina die Frauen das Haus mit Figuren des Weißen Tigers aus Papier. Dies ist ein Glückssymbol und dient der Abwehr von Ratten, Mäusen, Schlangen, Insekten und Ungeziefer aller Art.

 

Leider konnte der Glückbringer sein eigenes Schicksal nicht wenden. Die Population des Südchinesischen Tigers sank von 4000 auf 20 bis 30 Individuen, andere Quellen meinen, er sei bereits ausgerottet. Im Norden sieht es kaum besser aus: 20 Sibirische Tiger haben in der Mandschurei überlebt und 20 Bengalische Tiger in Tibet. Im Südwesten soll es noch zehn Indochinesische Tiger geben.

 

Ein rätselhafter Fall ereignete sich vor gut zwei Jahren in der Provinz Shaanxi. Ein Mann behauptete, unter Einsatz seines Lebens mehr als dreißig digitale Fotos eines Tigers geschossen zu haben. Die Forstverwaltung der Provinz unterstützte seine Aktion und lud zur Pressekonferenz, um das kleine Wunder bekannt zu machen, dass in den Qinba Bergen zum ersten Mal seit 1964 ein Südchinesischer Tiger gesichtet worden sei. Bald kamen Zweifel auf an der Echtheit der Fotografien. Im November 2008 rückten die Forstbehörden vom Fotografen ab, bezeichneten die Fotos aber erst im Juni 2009 als Fälschungen. Der Fotograf wurde als Betrüger in Haft genommen. Es bleiben eine Reihe von Ungereimtheiten, einige Beobachter sind noch heute von der Echtheit der Fotos überzeugt: handelt es sich um verfälschte Fotografien oder um falsche Fälschungen? Niemand weiß.

Zum Abschluss ein Hinweis auf einen Mythos vom anderen Ende der Welt: Ein Leben aus drei Tigerzyklen, das macht 36 Jahre. Eine unglückliche Kindheit und ein einsamer Tod. Dazwischen eine seltsame Karriere der Wandlungen vom Symbol der Weiblichkeit, das Männer sich offenbar nur als hübsches blondes Dummchen vorstellen können – weshalb sie ihre Haare färbte und die Naive gab – , zur schönen Eleganz einer Charakterdarstellerin. Ein besonderer Mensch, Marilyn Monroe, ein Feuertiger Jahrgang 1926.

P.S.: Wer sich in Beijing einstimmen möchte auf das Jahr des Tigers, sollte ins Hauptstadtmuseum gehen. Dort ist bis zum 21. März eine Ausstellung mit mehr als hundert Exponaten rund um den Tiger zu sehen. Eigentlich fehlt nur eine Fotografie von Marilyn ...

 

 
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