25-01-2013
Korrespondenten der BR
SOS - Kinder in Not
von Li Li

 

 

Die Tragödien der jüngsten Vergangenheit zeigen, dass China unbedingt ein besseres

Kinderfürsorgesystem braucht

 

 

 

Unerträglicher Schmerz: Yuan Lihai wird von Kuai Le, einer ihrer Pflegetöchter, getröstet. Yuan wurde wegen hohen Blutdrucks ins Krankenhaus eingeliefert, nachdem sechs ihrer Pflegekinder drei Tage zuvor bei einem Brand ums Leben gekommen waren.

 

Ihr großes Herz verschaffte Yuan Lihai, einer einfachen Frau aus dem Kreis Lankao (Provinz Henan) zwanzig Jahre lang großen Respekt bei ihren Mitmenschen. 1987 nahm sie ein verwaistes Neugeborenes bei sich auf und kümmerte sich um das Baby mit der Hasenscharte wie um ihr eigenes Kind. Ihr mütterliches Wesen hat sie seitdem nicht im Stich gelassen.

Yuan nahm mehr als 100 Pflegekinder bei sich auf, viele davon litten an angeborenen Krankheiten wie Kinderlähmung und Albinismus oder hatten psychische Störungen. Um sie unterstützen zu können, betrieb sie mehrere Verkaufsstände an einem Krankenhaus. Einige der von ihr geretteten Kinder sind mittlerweile erwachsen und haben eigene Familien.

Wegen ihrer Großherzigkeit wurde Yuan, die auch eine leibliche Tochter und zwei Söhne hat, zu einer lokalen Berühmtheit. Das ging so weit, dass man ungewollte Babys vor ihrer Tür ablegte. Auch wenn ihr Haus eigentlich ein unangemeldetes Pflegeheim ohne offizielle Genehmigung war und gegen die Vorschriften verstieß, zeigte sich die örtliche Regierung bis vor kurzem nachsichtig, manchmal sogar hilfsbereit. In unregelmäßigen Abständen versorgte sie Yuan mit Essen und Geld und sicherte ihr und 19 ihrer Pflegekinder einen Anspruch auf staatlichen Unterhalt in Höhe von 87 Yuan (rund 10 Euro) pro Person und Monat zu.

Alles änderte sich am 4. Januar 2013, dem Tag, an dem einer ihrer Schützlinge mit Feuer spielte und einen Brand auslöste, der das zweigeschossige Haus, in dem 18 der Pflegekinder lebten, völlig zerstörte. Bei dem Feuer kamen sechs Kinder unter fünf Jahren, teilweise von Geburt an blind oder gelähmt, ums Leben. Auch ihr 20-jähriger Pflegesohn, der an einer angeborenen Gehbehinderung litt, wurde ein Opfer der Flammen, ein weiteres Kind (11) verletzt. Zum Zeitpunkt des Unglücks brachte Yuan ihre anderen Pflegekinder gerade in die Schule.

In den Medien wurde Yuan nach diesem Vorfall zu einer umstrittenen Figur. Um ihr eigenes Verhalten zu rechtfertigen, erklärten örtliche Beamte, dass man Yuan nicht davon habe überzeugen können, ihre Kinder in ein staatliches Kinderheim zu geben, da sie nicht auf den engen Kontakt mit den Kindern verzichten wollte.

Die Leute waren schockiert, als Yuan erklärte, dass 30 Prozent ihrer Adoptivkinder wegen ihres schlechten Gesundheitszustands vorzeitig starben, weil sie ihnen keine weiterführende medizinische Versorgung bieten konnte.

Trotz allem zeigen Yuans Erlebnisse aber vor allem eines auf: das Versagen von Chinas Kinderfürsorgesystem und die Notwendigkeit, regierungsunabhängige Kindereinrichtungen zu unterstützen.

"Wenn ich die Kinder nicht zu mir nach Hause genommen hätte, wären sie einfach auf der Straße gestorben", erklärte Yuan am 5. Januar gegenüber der Yangcheng Evening News, einer Zeitung aus Guangzhou. Ein Hauptgrund für ihre immer größer werdende Pflegefamilie ist die Tatsache, dass es in Lankao, einem der ärmsten Kreise der Provinz Henan mit rund 800.000 Einwohnern, kein öffentliches Kinderheim gibt. Ein solches Heim wurde erst im Dezember 2012 vom Ministerium für Zivile Angelegenheiten bewilligt, der Baubeginn ist für 2013 vorgesehen.

Noch vor nicht allzu langer Zeit seien Waisen- und Findelkinder vom einzigen staatlichen Waisenhaus in der nahegelegenen Stadt Kaifeng wegen fehlender Kapazitäten abgewiesen worden, erklärte Feng Jie, ein örtlicher Beamter, gegenüber der Beijing News. Erst seit September 2011 bot das Obdachlosenheim in Lankao den Kindern eine vorübergehende Bleibe an, bevor es sie in das Waisenhaus in Kaifeng übermittelte.

Die Situation in der Provinz ist kein bisschen besser. Das Amt für Zivile Angelegenheiten von Henan schätzt, dass in der Provinz jedes Jahr zwischen 50.000 und 80.000 behinderte Kinder geboren werden, tausende von ihnen werden ausgesetzt. Nur rund 1000 dieser Kinder werden in staatlichen Waisenhäusern untergebracht.

Nach offiziellen Angaben leben mehr als 5600 Waisenkinder und behinderte Kinder in den fast ausschließlich staatlichen Kinderfürsorgeeinrichtungen von Henan.

"Der Brand in Lankao ist kein Einzelfall. Ohne eine funktionierende Kinderfürsorge ist es sehr wahrscheinlich, dass solche Tragödien auch anderswo passieren", sagt Wang Zhenyao, ehemaliger Beamter und jetztiger Leiter des One Foundation Philanthropic Research Institute an der Beijing Normal University. 

Kinderschutzgesetze und - behörden, wie sie in anderen Ländern schon lange üblich sind, fehlen in China noch. Sie seien unerlässlich, um das Kindeswohl zu garantieren, ohne sie sei es kaum mehr als eine Reihe gut gemeinter Phrasen, so Wang.

Ein Mangel in der Gesetzgebung ist das Hauptproblem. „Nur wenn durchsetzbare Gesetze in Kraft treten, werden die Behörden in der Lage sein, Frauen wie Yuan zu helfen", erklärt Wang.

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