19-03-2012
Porträt
Zhao Yuan: Das Bonussystem bei der Hochschulaufnahmeprüfung abschaffen

 Zhao Yuan, Mitglied der Politischen Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes (PKKCV) und Wissenschaftlerin am Forschungsinstitut für Literatur bei der  Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften

Ministerpräsident Wen Jiabao hat im diesjährigen Tätigkeitsbericht der Regierung versprochen, „die Reform des Bildungssystems tief gehend voranzutreiben, die kompetenzorientierte Bildung allseitig durchzuführen, die hervorstechenden Probleme bezüglich der Prüfung, Aufnahme von Schülern und Studenten, der Bildung und des Unterrichts schrittweise zu lösen". Zhao Yuan, Mitglied der Politischen Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes (PKKCV) und Wissenschaftlerin am Forschungsinstitut für Literatur bei der  Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften, hat im Interview mit der Beijing Rundschau ihren Unmut  über die aktuelle Praxis der Berechnung des Notendurchschnitts bei der Hochschulaufnahmeprüfung geäußert. Gegenwärtig können Schüler ihren Notenschnitt durch Leistungen aufbessern, die wenig oder nichts mit ihren Schulleistungen zu tun haben: zum Beispiel durch Auszeichnungen in Sportwettkämpfen oder auf dem Gebiet der schönen Künste. Auch für Angehörige von nationalen Minderheiten gibt es einen Bonus, der mit 10 bis 20 Punkten zu Buche schlägt. Zhao Yuan spricht sich ganz entschieden gegen unverhältnismäßige Bevorzugungen aus. „Schon bald nach Einführung dieser Vergabepraxis hat es viele Missbrauchsfälle gegeben. Schüler spielten sich mit angeblichen Höchstleistungen im Sport auf, andere behaupteten fälschlich, einer nationalen Minderheit anzugehören", sagt Zhao. Berichte über negative Folgen dieser Regelung häuften sich.

„Besonders lächerlich finde ich, dass Schüler wegen guten Betragens einen Bonus bekommen haben", sagt Zhao.

Zwar diskutiert die chinesische Gesellschaft eifrig über eine Hebung der Moral und macht sich Gedanken über die Unterweisung in Ethik an Schulen, aber Zhao ist der Auffassung, dass Belohnung für anständiges Verhalten in Form von Pluspunkten eher einen gegenteiligen Effekt erzielt: „Gutes Benehmen im Tausch gegen gute Noten, das führt doch nur zu Heuchelei und zur Herstellung `falscher´ guter Menschen!"  

Ursprünglich zielte das Bonussystem auf eine Stärkung der kompetenzorientierten Bildung. Zhao Yuan ist gar nicht dagegen, sportliche und künstlerische Neigungen und Leistungen als zusätzliche Kriterien zur Beurteilung eines Schülers heranzuziehen. Diese „soft skills" aber in Punkte umzumünzen, davon hält die Wissenschaftlerin nichts: „Dies widerspricht den Prinzipien einer gesunden und gerechten Konkurrenzsituation in Prüfungen."

Manipulation und Missbrauch seien Tür und Tor geöffnet. Zertifikate über Leistungen in sportlichen Einzeldisziplinen seien beispielsweise leicht durch Bestechung zu erlangen.

Für fragwürdig hält Zhao auch die Bevorzugung von Kindern der so genannten „Märtyrer der Revolution" und „öffentlich anerkannten Helden" durch das Bonussystem. „Gibt es für den Staat keine andere Weise, seine Dankbarkeit auszudrücken, wenn etwa ein Polizist im Dienst sein Leben geopfert hat? Warum sollen Kinder durch die Leistung ihrer Eltern einen bevorrechtigten Zugang zum   Studium erhalten?" Der Personenkreis, der durch das Bonussystem bevorzugt wird, würde immer weiter gefasst und die Transparenz der Vergabepraxis immer schwerer zu kontrollieren, so die Wissenschaftlerin.

Einverstanden ist Zhao Yuan hingegen mit der bevorzugten Behandlung der nationalen Minderheiten. Denn diese seien tatsächlich sozial und ökonomisch benachteiligt. Die unterschiedlichen Leistungsmaßstäbe, die Chinas Provinzen an ihre Hochschulbewerber anlegen, kritisiert Zhao hingegen mit aller Entschiedenheit. Ein Kandidat aus Beijing gelangt mit einem viel niedrigeren Leistungsprofil an die Uni als ein Bewerber aus dem Hinterland. Die Logik, die dieser Politik anfangs innewohnte, sei durchaus nachvollziehbar: in der Aufbauphase der Volksrepublik sollten die Bewohner der Hauptstadt privilegiert werden, der Gedanke der Stabilität stand im Vordergrund, eine hohe Jugendarbeitslosigkeit wäre dem nicht förderlich gewesen. Dieser Ansatz sei heute angesichts der inzwischen vollzogenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung aber längst nicht mehr zeitgemäß. Die existierenden Privilegien müssten schrittweise abgebaut werden.

Gegenwärtig sind Absolventen der Oberschulen extrem abhängig von der Hochschulaufnahmeprüfung. Sozusagen psychisch und physisch. Die Ursachen dafür sind vielfältig, ein entscheidender Grund dürfte aber die mangelnde gesellschaftliche Akzeptanz für Bildungswege ohne Studium sein. Berufliche Bildung trägt in China immer noch das Stigma des Scheiterns. Viele junge Leute fühlen sich minderwertig, wenn es bei ihnen nicht zur Aufnahme an eine Universität reicht. Dies sei ein Problem des vorherrschenden Menschenbildes, denn eigentlich besteht in China großer Bedarf an beruflich qualifizierten Arbeitnehmern vor allem im Facharbeiterbereich. „Die Gesellschaft muss den Jugendlichen mehr Entwicklungsraum einräumen, um Talente zu entwickeln, die nicht auf einen starren Bildungsweg fixiert sind. Erst dann können sich auch Jugendliche, die keine Universität besucht haben, den Respekt ihrer Mitmenschen verdienen. Dazu aber bedarf es eines umfassenden Lösungsansatzes für die Reform des gesamten Bildungssystems", meint Zhao Yuan.