23-02-2011
Tagungsthemen
Wanderarbeiter heftig umworben

In vielen Regionen, die lange als rückständig galten, zeichnet sich ein wachsender Bedarf an Arbeitskräften ab. Die Notwendigkeit der Arbeitsmigration scheint abzunehmen. Experten sind sich uneinig, ob damit ein langfristiger Trend verbunden ist, oder ob es sich um eine zeitweilige Schwankung auf dem Arbeitsmarkt handelt.

„Gute Arbeit vor der Haustür, und dann auch noch gut bezahlt!",  „ Hin- und Herreisen kostet Zeit und Geld, hier in Chongqing zu arbeiten ist die beste Lösung! ", „Mehr Zeit für die Kinder, mehr Zeit für die Eltern, in Chongqing kann man gute Jobs finden!"

Im Hauptbahnhof und in den Busbahnhöfen Chongqings, der größten Metropole Südwestchinas, sind derzeit überall solche Slogans auf Transparenten zu lesen. Die Absicht ist klar: die Wanderarbeiter, die jetzt nach dem Frühlingsfest erneut zum Arbeiten in die ostchinesischen Provinzen reisen, sollen dazu überredet werden, in der Heimat zu bleiben. Nicht nur in Chongqing, sondern auch in Provinzen Sichuan, Hubei, Hunan, Hebei, Anhui und Henan, die traditionell als die größten Lieferanten von Arbeitskräften für die wirtschaftlich entwickelten Küstenprovinzen gelten, werden Wanderarbeiter von den Lokalregierungen und  Betrieben vor Ort herzlich dazu eingeladen, anstatt in die Ferne zu schweifen, lieber einen Job in der Nachbarschaft anzunehmen. In zahlreichen Regionen ist die Zahl der Wanderarbeiter bereits rückläufig. So werden in diesem Jahr auf der Suche nach Arbeit schätzungsweise eine Million Menschen weniger aus Hubei auswandern als im Jahr zuvor.

Parallel dazu versuchen Betriebe in den Küstenprovinzen mit Lohnerhöhungen und Verbesserungen der Arbeitsbedingungen die Herzen der Wanderarbeiter zurückzugewinnen. Sechs Tage nach dem Frühlingsfest haben Unternehmen in und um Shanghai etwa 400 festlich geschmückte Busse nach Anhui, Henan und Hubei geschickt, um die Wanderarbeiter von zu Hause abzuholen und wieder nach Shanghai zu bringen, natürlich kostenlos.

In zentralchinesischen Provinzen sind Beamte derzeit angewiesen, eine bestimmte Anzahl von Wanderarbeitern für die lokalen Wirtschaft anzuwerben, während es vor kurzem noch genau andersherum war. Da mussten Beamten für überzählige Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft noch nach Arbeitgebern in den Küstenprovinzen suchen. „Im Unterschied zur Sorge der Betriebe vor einem Mangel an Arbeitskräften, bleiben die umworbenen Wanderarbeiter eher gelassen. Viele haben in Verhandlungen mit potenziellen Arbeitgebern ihre Lohnerwartungen spürbar nach oben getrieben. Es ist nicht so leicht, sie zu überzeugen, in der Heimat zu bleiben," räumt Yang Shenghuan, Verwalter des Industrieparks Shuangfu in Chongqing, ein. All dies zeige, dass sich der Arbeitskräftemangel dieses Jahr von den Küstenregionen bereits auf zentralchinesische Provinzen ausgeweitet habe.

 

„Wir haben den weltgrößten Keybord-Hersteller in den Industriepark eingeführt, der hat hier 2500 Stelle geschaffen. Bisher sind aber nur 700 Arbeiter angeworben worden" , so Yang Shenghuan. In dem wichtigsten Produktionsstandort im Perlflussdelta, Dongguan, sieht es nicht besser aus. Wang Jinyang, Manager einer dort ansässigen Schuhfabrik, sagt: „ Auf der Jobbörse kann man noch Ingenieure oder Projektmanager anwerben, aber Facharbeiter sind heute sehr schwer zu finden."

Zhai Yanli, Leiter des Informationszentrums für Arbeitsmarkt, sieht darin  eine eher positive Tendenz. Er meint, auch wenn man in den Küstenprovinzen durchschnittlich 20 Prozent mehr verdient als im Binnenland, fressen die höheren Lebenshaltungskosten doch wieder alles auf. Die Wanderarbeiter haben von der Wirtschaftsentwicklung kaum profitiert. Nun ist die Nachfrage nach Arbeitskräften in Zentral- und Westchina gestiegen und immer mehr Wanderarbeiter können in Heimatnähe arbeiten. Dies trägt zur Ausbalancierung der Arbeitsmärkte von Ost- und Westchina bei.

Professor Cai Fang von der Akademie für Sozialwissenschaften meint, wegen der seit mehr als dreißig Jahren betriebenen Ein-Kind-Politik und der damit einhergehenden Überalterung der Gesellschaft werde die Zahl der Erwerbsfähigen in China nach und nach rückläufig sein, während sich der Wirtschaftswachstum des Landes weiter beschleunigt. Diese wachsende Schere zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt führe schließlich zum Kampf um Arbeitskräfte, der sich allmählich landesweit abspielt. Cai vertritt die Meinung, dass der Mangel an Wanderarbeitern ein allgemeines und dauerhaftes Problem in China bleiben wird.

Zhang Libin, Chefin des Amts für Beschäftigung und Arbeitsmarkt beim Ministerium für Arbeit und Sozialversicherung, ist hingegen anderer Meinung. Sie geht davon aus, dass die Zahl der erwerbsfähigen Bevölkerung in China weiter wachse. Der Wendepunkt sei bei weitem noch nicht erreicht. Aber aufgrund fortschreitender Technisierung der Arbeitswelt ist die Nachfrage nach Fachkräften enorm gestiegen. In der Tat zeige sich der Arbeitskräftemangel als Mangel an qualifizierten und erfahrenen Fachkräften. Parallel zum Fachkräftemangel suchten in vielen Städten immer noch zahlreiche Schul- und Hochschulabgänger sowie Wanderarbeiter über 40 vergeblich nach Arbeit. Nach Zhang handelt es sich dabei eher um ein Problem des Strukturwandels, das nicht von Dauer sein werde.

Nach Angaben von Zhai Yanli, dem Leiter des Informationszentrums für Arbeitsmarkt, ist das Einkommen von Wanderarbeitern 2010 durchschnittlich um 15 Prozent gestiegen, dieses Jahr wird es voraussichtlich um weitere 15 bis 20 Prozent wachsen. Diese Lohnerhöhungen seien jedoch nicht sonderlich attraktiv, insbesondere vor dem Hintergrund der drastischen Verteuerung der Lebenshaltungskosten. Wenn am Monatsende kein Geld mehr übrigbleibt, lohnt es sich nicht mehr, in den Städten zu bleiben. Zhai erkennt darin eine große Verschwendung von Arbeitskraft.

Cai Fang ruft die Lokalregierungen dazu auf, Wanderarbeiter besser ins Stadtleben zu integrieren, damit sie gleichberechtigt am öffentlichen Leben teilnehmen und in den Genuss staatlicher Dienstleistungen kommen können. Nur so lassen sich ihre Herzen gewinnen und der Mangel an Arbeitskräften langfristig beseitigen.