Ein neues Gesetz fördert den gleichberechtigten Zugang zu Sozialleistungen und unterbindet Veruntreuung
Der ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses (NVK), dem obersten gesetzgeberischen Organ in China, hat am 28. Oktober in fünfter Lesung ein Sozialversicherungsgesetz verabschiedet, das der missbräuchliche Verwendung von Versicherungsfonds einen Riegel vorschieben soll. Während der Begutachtungsphase hatte der NVK zahlreiche Meinungen aus der Bevölkerung eingeholt.
Das Gesetz ist das erste seiner Art in China. Es schreibt gleichen Zugang für alle Bürger zu fünf Versicherungen vor: zur Grundsicherung für das Existenzminimum, zur Basis-Krankenversicherung, zur Arbeitsunfallversicherung, zur Arbeitslosenversicherung und zur Mutterschaftsversicherung.
Wu Bangguo, der Vorsitzende des Ständigen Ausschusses des NVK, erklärte, dass das Gesetz ein konstitutives Element des sozialistischen Rechtssystems des Landes sei; es verbessere die Überwachung der Sozialversicherungsfonds durch die lokale Legislative. Das Sozialversicherungsgesetz werde sowohl in den Städten als auch auf dem Land die soziale Absicherung verbessern und allen Bürgern eine Teilhabe an den Früchten der Reformpolitik garantieren.
Das Gesetz räumt mit vielen Hürden auf, welche die ursprünglichen Regelungen der Bewegungsfreiheit der wachsenden Binnenmigration in China in den Weg gestellt hatten. Es schreibt ein neues Beitragssystem vor, unter dem der Versicherungsschutz nicht an einen bestimmten Ort gebunden sein wird. Auch bei der Rentenversicherung soll es möglich sein, an einem Ort Beiträge zu leisten und an einem anderen Ort Leistungen in Anspruch zu nehmen.
Zheng Gongcheng, Mitglied des Ständigen Ausschusses des NVK, der sich seit langem mit dem System der sozialen Absicherung beschäftigt, sagte in einem Interview mit der Zeitschrift Legal Weekly, dass die Verabschiedung des Gesetzes den Übergang von zwanzig Jahren Versuchsstadium zu einer Phase stetiger Entwicklung markiere. Die strategischen Ziele des Ständigen Ausschusses seien die Ausweitung des Systems auf alle Einwohner der Städte und der Bewohner ländlicher Regionen, eine faire, allgemeine und nachhaltige Entwicklung, die Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung und der Schutz persönlicher Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde.
Im Jahr 2009 waren in den Städten 401 Millionen Arbeiter und andere Menschen an der Basis-Krankenversicherung beteiligt; das System der genossenschaftlichen medizinischen Betreuung neuen Typs auf dem Lande versorgte 830 Millionen Menschen in ländlichen Regionen. Nach Angaben der Regierung sind 127 Millionen Menschen an der Arbeitslosenversicherung, 149 Millionen an der Arbeitsunfallversicherung und 108 Millionen an der Mutterschaftsversicherung beteiligt.
Xin Chunying, der stellvertretende Vorsitzende der Legislativkommission des Ständigen Ausschusses des NVK, sagte, dass das Sozialversicherungsgesetz das Prinzip des gleichberechtigten Zugangs zu Sozialleistungen für Menschen auf dem Land und in den Städten verkörpere.
Bauern hatten in China lange Zeit keine Sozialversicherung. Im Jahr 2003 wurde ein genossenschaftliches Gesundheitswesen auf dem Land initiiert, in dem sowohl die Versicherten als auch die Regierung in einen Fonds einzahlten. Die Teilnehmer erhielten einen Teil ihrer Krankenhauskosten von der Versicherung erstattet. Die Höhe der Selbstbeteiligung hing jeweils von der Art der Krankheit und den Gesamtkosten der Behandlung ab. 2009 wurde ein Pilotprojekt für ein neues Pensionsversicherungssystem auf dem Land durchgeführt, in dem die lokalen Regierungen einen Teil der Versicherungsbeiträge für schwerbehinderte Menschen und andere besonders Bedürftige beisteuerten.
„Während der dreijährigen Begutachtung der Gesetzesvorlage versuchten wir, die Sozialversicherungssysteme für die Stadtbewohner und die Landbevölkerung zu vereinheitlichen. Die Fondsbeiträge und die Regelung der Versicherungsleistungen konnten beispielsweise angeglichen werden", sagte Xin Chunying.
Der Aufbau eines Sozialversicherungssystems für alle Menschen auf dem Land und in den Städten ist im Vorschlag des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas vom 27. Oktober für den 12. Fünfjahresplan (2011–2015) zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung des Landes enthalten.
Die fünf genannten Versicherungen haben aus Beiträgen der Versicherten, von Arbeitgebern und der Regierung mehrere Billionen Yuan akkumuliert.
Nach einer Studie einer Expertenkommission der staatlichen Forschungsstiftung für Entwicklung müsste China bis 2020 5,74 Billionen Yuan (627 Milliarden Euro) investieren, um ein umfassendes Sozialversicherungssystem einzurichten, das eine allgemeine Verbesserung des Lebensstandards darstellte.
Es wird allgemein erwartet, dass die Regierung die nötigen Mittel zur Verfügung stellt, um die in dem Gesetz vorgesehenen Maßnahmen umzusetzen. Zheng Bingwen von der Akademie der Sozialwissenschaften stellte in einer Studie fest, dass die Pensionsfonds in China ein Defizit von etwa 1,3 Billionen Yuan (142 Milliarden Euro) haben, schreibt die Zeitung Southern Daily in Guangzhou.
In einem Kommentar der Zeitung Accounting Messenger heißt es: „Die Umsetzung des Sozialversicherungsgesetzes ist eine Herausforderung für die Regierungen auf verschiedenen Ebenen. Die Annahme der Gesetzesvorlage zeigt, dass die Regierung sich um das Wohl der Bürger sorgt, doch nur bei entsprechender Umsetzung wird es der Bevölkerung handfeste Verbesserungen bringen."
Um dem Missbrauch von Versicherungsfonds einen Riegel vorzuschieben, schreibt das Gesetz vor, dass die Einnahmen und Ausgaben der Fonds sowie die Verwaltung und Investitionen der Mittel offengelegt werden sollen.
Das Gesetz tritt am 1. Juli 2011 in Kraft. Es war nach einem Skandal in Shanghai im Dezember 2007 dem NVK zur ersten Lesung vorgelegt worden. Korruption hatte dem Sozialversicherungsfond der Stadt Shanghai damals ein gigantisches Defizit von 3,7 Milliarden Yuan (404 Millionen Euro) beschert.
Nach dem neuen Gesetz dürfen Defizite von Regierungsbudgets nicht aus Mitteln der Sozialversicherungsfonds gedeckt werden. Versicherungsbeiträge dürfen auch nicht dazu verwendet werden, Regierungsgebäude zu renovieren oder laufende Kosten der Verwaltung zu bestreiten. Das Gesetz regelt auch die Vertraulichkeit von Informationen: Die Versicherungen dürfen Informationen über Arbeitgeber oder Arbeitnehmer nicht offen legen; Verstöße gegen diese Verschwiegenheitspflicht werden geahndet.
Da das neue Gesetz fast alle Bürger des Landes betrifft, gingen beim Ständigen Ausschuss des NVK Anfang 2009 in nur eineinhalb Monaten rund 70 000 Vorschläge aus der Öffentlichkeit ein. Nach einem Bericht der Beijing News bezogen sich die meisten Vorschläge auf die große Kluft zwischen den Versicherungsleistungen für Stadtbewohner und jene für die Landbevölkerung sowie auf die im Vergleich zu entwickelten Ländern sehr geringen Ausgaben der Regierung für Sozialleistungen.
Der NVK hatte bereits vor 16 Jahren den Vorschlag gemacht, ein Sozialversicherungsgesetz zu entwerfen. Die nun verabschiedete Vorlage war drei Jahre lang begutachtet worden.
Die Vorschriften über die Sozialversicherung gelten nach dem neuen Gesetz auch für Ausländer, die in China arbeiten: „China öffnet sich wirtschaftlich und gesellschaftlich immer weiter. Diese Vorschriften entsprechen internationalen Gepflogenheiten; Ausländer, die in China arbeiten, werden gleich behandelt", sagte Hu Xiaoyi, ein stellvertretender Minister für Arbeit und soziale Sicherheit bei einer Pressekonferenz des Ständigen Ausschusses des NVK. |