Chinas Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat im zweiten Quartal 2010 dasjenige Japans übertroffen, was in der Weltöffentlichkeit für beträchtliches Aufsehen gesorgt hat. China verfügt nun nach den USA über die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt. Zahlreiche Experten sind der Ansicht, dass Chinas BIP zwar vom Umfang her groß sei, seine Qualität aber zu Wünschen übrig ließe. Was sind die Ursachen für diese Erscheinung? Wie kann man die Qualität des Bruttoinlandprodukts erhöhen? Die „Volkszeitung", das Zentralorgan der Kommunistischen Partei Chinas, hat dazu Liu Fuyuan, den ehemaligen stellvertretenden Direktor des Instituts für Makrowirtschaft im Staatlichen Komitee für Entwicklung und Reform, interviewt.
BIP pro Kopf noch immer sehr gering
Volkszeitung: Die Nachricht, dass Chinas BIP inzwischen die zweite Stelle in der Welt einnimmt, hat für Diskussionsstoff gesorgt. Wie betrachten Sie die Steigerung des BIP?
Liu Fuyuan: Diese Nachricht ist natürlich eine großartige Bestätigung für unsere Reform- und Öffnungspolitik. In den letzten dreißig Jahren hat sich unsere Industrie rasant entwickelt. Der Anteil des BIPs, der im sekundären und tertiären Sektor erwirtschaftet wird, nimmt mittlerweile 80 Prozent ein und hat den Anteil der Landwirtschaft weit hinter sich gelassen. Die hohe Positionierung Chinas auf der BIP-Weltrangliste zeigt, dass die Wirtschaft des Landes den Weg der marktwirtschaftlichen Entwicklung eingeschlagen hat.
Andererseits sollten wir durchaus kühlen Kopf bewahren, es besteht kein Anlass für übermäßige Begeisterung. Ein großes BIP bedeutet nicht, dass das Land stark und reich ist. Da die Bevölkerungszahl unseres Landes sehr hoch ist, steht China beim Pro-Kopf-BIP lediglich an 124. Stelle in der Welt. Gegenwärtig beträgt das BIP pro Kopf in China rund 3500 US-Dollar, was noch nicht einmal der Hälfte des Weltdurchschnitts entspricht. Das verfügbare Einkommen und das Konsumniveau der chinesischen Bevölkerung muss dringend erhöht werden. In diesem Bereich haben wir noch einen weiten Weg vor uns.
Trotz Wachstums keine bedeutende Erhöhung des Lebensstandards
Woran lässt sich ablesen, dass Chinas BIP zwar groß ist, dessen Qualität aber eher niedrig anzusetzen ist?
Erstens ist das rasante Wachstum des BIP hauptsächlich auf Investitionen zurückzuführen, die einen hohen Preis fordern, da sie wenig nachhaltig sind, also zu erheblichen Umweltschäden und zur Verschwendung von Energie und Rohstoffen geführt haben. Zweitens mangelt es im Produktionsalltag noch immer an Arbeitsschutzmaßnahmen. Drittens dürfen wir nicht vergessen, dass ausländische Direktinvestitionen und die Exportwirtschaft jeweils einen großen Teil zum chinesischen Bruttoinlandsprodukt beitragen. Das Bruttoinlandsprodukt ist zwar groß, das Bruttosozialprodukt aber sehr niedrig. Produkte aus China sind weltweit bekannt für ihren niedrigen Preis. Zahlreiche Produkte werden sogar zu einem Preis exportiert, der unter ihren Herstellungskosten liegt. In China ist jede Provinz für die Erfüllung eines bestimmten Steueraufkommens verantwortlich. Deswegen ist die Industriestruktur in den entwickelten Regionen des Landes fast identisch. Und die Konkurrenz untereinander ist heftig. Man setzt allein auf den Preisvorteil. Wer am Lohn der Arbeiter und an der Qualität der Rohstoffe spart, bleibt wettbewerbsfähig. Aber die Gewinnspannen sind sehr gering.
Noch schlimmer aber ist der Umstand, dass das Wachstum des Bruttoinlandprodukts den Lebensstandard der Bürger nicht beträchtlich verbessert hat. Nicht nur der Anteil von Löhnen und Gehältern am BIP ist gering, sondern auch der Anteil des Volksvermögens. Ein Großteil des erwirtschafteten Wachstums fließt nach Übersee.
Absage an „BIP-Fetischismus"
Was sind die Ursachen für die Diskrepanz zwischen Quantität und Qualität des chinesischen Bruttoinlandsproduktes?
Früher sind wir regelmäßig in die Falle des „BIP-Fetischismus" gelaufen. Das BIP ist die wichtigste Kennzahl zur Beurteilung der Wirtschaftsentwicklung. Das Wachstum wird in China aber nicht angetrieben durch Konsum und Beschäftigung, sondern durch Investitionen. Wir haben das Verhältnis zwischen Wirtschaftswachstum und –entwicklung nicht angemessen behandelt. Ein BIP-Wachstum, von dem nur einige Wenige profitieren, ist nutzlos. Das BIP-Wachstum muss endlich auch der breiten Bevölkerung zugute kommen. Ist dies nicht der Fall, so offenbart dies deutliche Schwächen in unserem Verteilungssystem.
Welche Maßnahmen lassen sich ergreifen, um die Qualität des BIP zu verbessern?
Wir sollten die Inlandsnachfrage erweitern, um Investitionen und Wachstum anzuregen. Durch wachsende Nachfrage auf den heimischen Märkten wandelt sich die Struktur der Wirtschaft automatisch, wodurch die Qualität des BIP erhöht wird. Vordringlich ist die Überwindung der ungerechten Vermögensverteilung im Land. Die Beseitigung von Privilegien, Sonderrechten und Subventionen ist in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung. Unfaire Vermögensverteilung bedeutet nicht, dass es unterschiedliche hohe Einkommen gibt, sondern dass mangelnde Verteilungsgerechtigkeit herrscht. Wenn wir ein wirklich starkes und reiches Land aufbauen wollen, müssen wir nicht nur das BIP erhöhen, sondern auch moderne Technologien entwickeln. Löhne und Gehälter müssen erhöht werden, damit die Kaufkraft steigt. Gleichzeitig sollte der Wechselkurs des Renminbi angehoben werden. Allerdings können wir den Wechselkurs nicht schlagartig um 10 oder 20 Prozent erhöhen, sondern nur Schritt für Schritt. |